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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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Libido. Bernfeld war überzeugt, »dass manches vom hier Gesagten zugleich ein Beitrag zur Psychologie des Künstlers oder des schöpferischen Menschen überhaupt ist«. Deshalb nannte er die »gestreckte Pubertät« am Ende seiner Ausführungen auch die »genialische«.
     
    Keiner unter den Freunden Georges schien »genialischer« (im Sinne der gestreckten Pubertät) und »charismatischer« (im Sinne einer durch Erziehung übertragbaren Qualität) als der 1896 geborene Percy Gothein. Keiner hat die Gedichte des Stern des Bundes so verinnerlicht wie er, keiner ist an dem, was er für die Mission Stefan Georges hielt, auf so tragische Weise gescheitert. Gothein kann als der eigentliche Prototyp des George-Jüngers gelten. Sein Schicksal steht stellvertretend für jenen Teil der deutschen Jugend, der sich am Vorabend der Katastrophe des Ersten Weltkriegs so leidenschaftlich zu Stefan George bekannte, dass dieser vorübergehend in Versuchung geriet, sich eine größere Wirkung zu erhoffen.
    Gothein war früh von starkem missionarischen Eifer geprägt. Bereits über seine ersten Begegnungen mit George hatte er sich Aufzeichnungen gemacht, die er Anfang der zwanziger Jahre zu einem großen, bis heute unveröffentlichten autobiographischen Erziehungsroman ausarbeitete. 82 George war davon nicht begeistert und bemängelte früh, dass Percy »als sohn von zweien geist-eltern schon sehr bewusst (kritisch)« sei. 83 Der Vater, der Nationalökonom Eberhard Gothein, der 1904 Nachfolger auf dem Lehrstuhl Webers geworden war, gehörte als Schüler von Dilthey und Burckhardt zu den Wegbereitern der damals noch jungen Disziplin der Kulturgeschichte. »Heidelberger Spezialist für Universalität« nannte ihn Gundolf. 84
Die Mutter, Marie Luise, die Bücher über Wordsworth und Keats publiziert hatte und als Übersetzerin unter anderem von Rabindranath Tagore hervortrat, machte sich vor allem mit ihrer 1914 erschienenen zweibändigen Geschichte der Gartenkunst einen Namen. Neben Else Jaffé, mit der sie gut befreundet war, und Marianne Weber, zu der sie früh in Konkurrenz trat, zählte Marie Luise Gothein zu jenen Heidelberger Professorengattinnen, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zum legendären Ruhm der Stadt beitrugen.
    Dieser Ruhm verdankte sich einer eigentümlich anarchischen Mischung aus wissenschaftlichem Ehrgeiz und sexueller Freizügigkeit; über Emanzipation und Erotik wurde nicht nur debattiert. Marie Luise Gothein, Mitte vierzig, Mutter von vier Söhnen, entschied sich für eine Liaison mit dem 17 Jahre jüngeren Germanisten Philipp Witkop. Als Witkop im Frühjahr 1909 die gleichaltrige Pianistin Mina Tobler vorzog (die bald darauf ihrerseits die Geliebte Max Webers wurde), stürzte Marie Luise Gothein in eine schwere Krise und trennte sich vorübergehend von ihrem Mann. In langen, täglichen Briefen an ihn suchte sie wieder zu sich selbst zu finden und zerpflückte dabei überkommene Moralbegriffe wie Schuld und Sünde: das eine lasse sie gelten, das andere nicht. George, der sich schwer tat mit intellektuellen Frauen, die mit der Emanzipation ernst machten, nannte Marie Luise Gothein trocken und kalt. 85
    Mitte September 1910 hatte George die Brüder Gundolf beim Gang über die Neckarbrücke auf einen blonden Knaben aufmerksam gemacht, »der ähnlichkeit mit einem archaischen relief hätte so dass es sich lohnte von ihm eine aufnahme zu machen«. 86 Noch wusste keiner der drei, dass es sich um den jüngsten Gothein handelte. George hielt Ausschau, bekam ihn in der darauf folgenden Woche ein zweites Mal zu Gesicht und ging ihm nach. »Wenige Schritte, bevor ich durch unser Gartentor entschlüpft wäre, holte er mich ein.« 87 George wechselte ein paar Worte mit ihm und fragte nach seinem Namen. Ein paar Tage später beauftragte er Gundolf, mit der Familie einen Fototermin zu vereinbaren. Kronberger, Troschel, Gothein – am Anfang stand oft ein Fototermin.

    »Also ich war da und alles ist gut gegangen«, konnte Gundolf fünf Tage später berichten. »Sie war sichtlich gerührt und erfreut, denn es handelt sich um das Nesthäkchen … Der Vater lächelte auch vergnügt. Sie haben nichts Prinzipielles dagegen, tragen nur Bedenken, es ihm zu sagen, aus Sorge ihn eitel zu machen.« 88 Aber auch die Eltern fühlten sich geschmeichelt. Da George inzwischen nach Berlin abgereist war, sie sich jedoch die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollten, den berühmten Dichter persönlich zu empfangen, vereinbarten sie mit

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