Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
George ein längeres Gespräch mit der Mutter. »Mir war es heute sehr leid, dass wir in unserer Unterhaltung über Percy so plötzlich unterbrochen wurden«, schrieb sie ihm anschließend. »Wenn Sie mir also noch etwas sagen wollten so käme ich so gerne zu Ihnen herauf.« 98 Statt ihrer empfing George am Abend auf dem Schlossberg den Sohn und las ihm zum ersten Mal Gedichte vor: das zweite Zehnt des Zweiten Buchs aus dem Stern des Bundes . »Die Stimme des Führers hatte an manchen Stellen einen eigentümlichen Klang, als ob er von mir selbst, von meinen Leiden und ihrer Heilung spräche«, erinnerte sich Gothein später. Am Ende »war ich fast betäubt und in eine andere Sphäre erhoben. Danach ein Gespräch wieder anzuknüpfen wäre ein Abfall von dem, was vorher war, gewesen. Ich stand dann stumm auf und ging zur Türe. Der Führer aber legte seine Hand auf meine Schulter und geleitete mich wortlos hinaus. Dieser Abend war ihm eine bedeutsame Wende auf unsrem gemeinsamen Wege.« 99
Am nächsten Tag, seinem 18. Geburtstag, erhielt Gothein Post. Er sehe es »nicht nur als zufall an dass in der stunde wo ein jahr für Sie ablief und ein wichtigeres anfing – ich Sie gleichsam hinüberführte«, schrieb George und gab Percy die Versicherung, dass er »nach der unerwarteten wendung die am schluss unser gespräch nahm«, jetzt auf dem richtigen Weg sei. 100 Percys Entwicklung sei »vielleicht das freudigste Ereignis der letzten Jahre und Du hast wirklich allen Grund zufrieden zu sein«, bestätigte Morwitz in einem Brief an George Mitte Juni. 101 Sechs Wochen später brach der Krieg aus.
7 Prophetenmusik
»Europa! – das Wort klingt heute wie ein Märchen aus längst vergangenen Zeiten.« Als der Staatssekretär des Auswärtigen vor dem Hauptausschuß des Deutschen Reichstags im September 1917 diese Feststellung traf und prophezeite, dass sich die meisten Staaten am Ende des Krieges nach den Zuständen zurücksehnen würden, die sie 1914 als unerträglich empfunden hatten, war die alte Welt bereits unwiderruflich dahin. 1 Obwohl die Zäsur von 1914 durch die spätere von 1945 überlagert und der Erste Weltkrieg in der kollektiven Wahrnehmung (außer in England) durch den Zweiten in den Hintergrund gedrängt wurde, bleibt der August 1914 die »Ur-Katastrophe« (George F. Kennan) am Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Geschichtsforschung, die seit langem dazu neigt, die beiden großen Waffengänge als Einheit und die Zeit von 1914 bis 1945 als einen zweiten dreißigjährigen Krieg zu betrachten, spricht von der »Weltkriegsepoche«. In dieser Perspektive, so der amerikanische Historiker Arno J. Mayer, erscheint der Krieg jenseits aller ethnischen, nationalen und ideologischen Konflikte als der vergebliche »Kampf der alten Ordnung ums Überleben … als ein letztes Sich-Aufbäumen der europäischen anciens régimes vor dem Untergang«. 2
So sah es auch George. Der Krieg war nach seinem Verständnis nur die grauenvolle letzte Steigerung jener Katastrophe, die sich im Innern der europäischen Gesellschaften seit langem abspielte: »Erkrankte welten fiebern sich zu ende / In dem getob«. 3 Schon früh ahnte er, dass es wohl nicht bei einem Waffengang bleiben würde. Indem er den Krieg im Januar 1919 als einer der Ersten überhaupt den »Ersten« nannte, 4 machte er unmissverständlich klar, dass er mit mindestens einem »Zweiten« und möglicherweise weiteren Kriegen von
ähnlichem Ausmaß rechnete. Während seine Freunde ohne Ausnahme in die nationalen Schlachtgesänge einstimmten – »eh die Deutschen gesiegt haben hat nichts einen Sinn und Bestand« 5 -, mahnte George vom ersten Tag an zur Vorsicht. »Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein, / Nur viele untergänge ohne würde..« 6
Schuld an der scheinbaren Zwangsläufigkeit der Ereignisse, dem »großen Kladderadatsch« (August Bebel), waren nicht unüberbrückbare nationale Interessengegensätze gewesen. Die Katastophe ausgelöst hatte der in den Machtzentren angestaute, mehr emotionale als politische Druck, endlich eine Entscheidung suchen zu müssen. Alles schien besser als das für viele unerträgliche Gefühl des fortwährenden Ausweichens und Abwartens, an dem manch einer die Unentschiedenheit, ja geistige Leere der ganzen Epoche abzulesen meinte. »Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln«, notierte Georg Heym im Sommer 1910 in sein Tagebuch. »Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen
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