Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
dahin
erschienenen Stücke anzueignen – auf Norwegisch. Regelmäßig las er im Kreis des Raabschen Pensionats Übersetzungsproben vor oder gab aus dem Stegreif Szenen wieder, die er gerade gelesen hatte. Die frühen Werke, insbesondere die Dramen, in denen Ibsen auf altnordische Heldensagen zurückgriff, zog er den naturalistischen Gesellschaftsstücken eindeutig vor. 9 Während seines letzten Schuljahrs übersetzte er große Teile aus Ibsens Erstling Catilina (1849), im Sommer nach dem Abitur nahm er eine vollständige Übertragung der Heermannen auf Helgeland (1858) in Angriff. 10
Im Mittelpunkt der monumentalen Saga, die am Ende des 10. Jahrhunderts spielt und an deutschen Bühnen unter dem Titel Nordische Heerfahrt aufgeführt wurde, steht die Gestalt eines greisen Dichters, der seine sieben im Kampf gefallenen Söhne durch die Macht der Dichtung zu neuem Leben erweckt. Im Mai 1890 nahm George den Kommilitonen Maurice Muret mit in eine Aufführung am Deutschen Theater in Berlin. Muret war auf der ganzen Linie enttäuscht und fragte George nach der Vorstellung, was er denn davon halte. »Ich werde Ihnen meine Meinung in ein paar Tagen sagen«, antwortete George. »Lassen Sie mir Zeit, darüber nachzudenken.« 11 Auseinandersetzungen über Dinge, die ihm heilig waren, ging er zeitlebens aus dem Weg.
Ibsens Dramen begeisterten vor allem wegen ihres hohen sittlichen Ethos. Diejenigen, die sich im Zeichen Ibsens erkannten, waren als Gleichgesinnte von einem Zusammengehörigkeitsgefühl getragen, dem durchaus kämpferische Züge eigen waren. Man sei streng und unerbittlich gegeneinander gewesen und habe keinem eine Halbwahrheit durchgehen lassen, erinnerte Karl Wolfskehl die Grundstimmung der Darmstädter »Ibsen-Jugend«: »Unsere sittliche Idealbildung vollzog sich unter dem unerbittlichen Druck des Norwegers. Wahrheit in jedem Sinne wurde oberstes Gebot.« 12 Das Streben nach der Einheit von Wollen und Handeln stürzte Ibsens Protagonisten zwar in immer neue Konflikte mit einer korrupten und bigotten Gesellschaft. Aber noch in ihrem Scheitern lag ein Sieg über bürgerliche Verlogenheit. Die wahren »Stützen der Gesellschaft« waren eben
nicht die Honoratioren und Autoritäten, sondern, wie Lona Hessels am Schluss des Stückes resümiert, »der Geist der Wahrheit und der Geist der Freiheit«.
Mit Ibsens Helden hat sich George weit über die Schulzeit hinaus beschäftigt. Die Unüberbrückbarkeit des Gegensatzes zwischen der trägen Masse der Ignoranten und dem einsam um sein Ideal kämpfenden Individuum, ein Grundmuster der Ibsenschen Dramen, faszinierte ihn. Mit Hilfe Ibsens lernte er die eigene Position genauer zu bestimmen. Der Träumer aus dem Schilfpalast entpuppte sich als catilinarische Natur: »Er brütet heimlich über einem plan, / Ein kühnes werk hat er schon lang im sinn.« 13
Das war mehr als eine literarische Identifikation. George hat sich früh als einen potentiellen Anarchisten gesehen und seinen Freunden mehrfach versichert, dass er zum Äußersten entschlossen sei. »Socialist, Communard, Atheist« nannte er sich im Januar 1889 in einem Brief an Arthur Stahl aus Montreux und erklärte auch gleich, warum er sich in der Schweiz so wohl fühlte: »Hier in der schweiz gilt nämlich der ganze schwindel mit adeln, titeln, etc, keine bohne. Jeden mann vom bauer bis zum kaiser redet man mit monsieur an, und jedes weib von der marktfrau bis zur princessin redet man mit Madame an. Das ist sehr vernünftig!« 14 Auch wenn unklar blieb, auf welche Weise er sich in die Annalen des Anarchismus einschreiben wollte, darf man solche Selbstwahrnehmungen nicht unterschätzen. Der Aufruhr übte eine große Faszination auf ihn aus. Verschwörung, Umsturz, Staatsstreich gehören von Anfang an zu den zentralen Vorstellungen seines Weltbildes, die »Tat« wird zur entscheidenden Metapher seines Dichtens. Der Graphologe Ludwig Klages lag nicht falsch, als er viele Jahre später schrieb, Georges Handschrift zeige »eine ins Künstlerische geratene, um nicht zu sagen entgleiste, Täternatur«. 15
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Die regelmäßigen Theaterbesuche, die intensive Beschäftigung mit ihrem Idol Ibsen, aber auch mancher Stoff, der ihnen im Schulunterrichtet vermittelt wurde, boten den Schülern des Darmstädter Gymnasiums vielfache Anregung zu eigener dichterischer Produktion. Um sich ein Forum zu schaffen, beschlossen George, Rouge und Stahl, unter Beteiligung eines weiteren Mitschülers, Georg Böttcher, eine Schülerzeitschrift zu
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