Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Ausbleiben des Wunders erklärte George mit der mangelnden Glaubenskraft des Gefährten. Als Protestant fehle ihm leider das Verständnis für den Ritus. Katholiken wüssten, dass es vor allem darauf ankomme, den Handlungen einen Sinn abzugewinnen – »dann möchte wohl auch das lächerlich Scheinende ungeahnte Bedeutung erlangen«. Die Tatsache, dass andere sich darüber mokierten, »verstärke nur die magisch weihende Kraft des Ritus«. 28 Fuchs rechnete aufgrund solcher Erlebnisse fest damit, dass George »nach dem Examen in den Priesterstand eintreten werde, und zwar in einen Orden«.
Das wichtigste Instrument, Magie zu erzeugen, war die Sprache. Auch wenn George in Darmstadt noch keineswegs eine Laufbahn als Dichter vor sich sah, war er doch unablässig damit beschäftigt, die Grenzen der Sprache zu verrücken und neues Material zur Erschließung neuer Wirklichkeiten zu gewinnen. Da ihm die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts von Schiller bis Heyse als Bildungserlebnis im Weg stand und er ungewollt von einer Assoziation in die andere fiel, machte er in seiner Muttersprache nur geringe Fortschritte. Das Übersetzen wiederum bot zwar die Möglichkeit, sich in fremden Sprachen klanglich neu zu orientieren, aber solange die Mittel der eigenen Sprache als unzureichend begriffen wurden, versprach auch diese Tätigkeit keine Befriedigung auf Dauer. Es war deshalb nur konsequent, dass George sich erneut in eine Geheimsprache vertiefte. Schon in Bingen hatte er damit begonnen, eine zweite, über die
kindliche Stufe des »Imri« hinausgehende eigene Sprache zu entwickeln, an deren Vervollkommnung er jetzt mit großem Eifer weiterarbeitete.
War die »Informationsverschlüsselung« 29 des Neunjährigen Ausdruck seiner Weigerung gewesen, sich der Kommunikationsmittel der Erwachsenenwelt zu bedienen, so rückten in Darmstadt ästhetische Qualitäten in den Mittelpunkt: Sprache als Rohmaterial zur freien Verfügung des Künstlers. In einem unablässigen Hin- und Hergeschiebe von Konsonanten und Vokalen erhielt am Ende die Kombination den Vorzug, die den vollsten Klang ergab. Noch nach dem Abitur arbeitete George daran, in Anlehnung an die romanischen Sprachen »eine eben so klingende wie leicht verständliche literatur sprache für meinen eigenen bedarf« zu entwickeln, eine dritte Kunstsprache also, die er Lingua Romana nannte. 30 In dieser Sprache schrieb er 1889 eine Reihe von Gedichten, von denen er einige anschließend ins Deutsche übertrug. »Es ist«, resümierte Manfred Durzak, »ein einmaliges Phänomen in der Geschichte der deutschen Literatur, dass ein von den Möglichkeiten sprachlicher Ausdruckskraft faszinierter junger Dichter seinen Gestaltungsdrang nicht an dem ihm auf natürliche Weise bereitstehenden Sprachmaterial, nämlich seiner Muttersprache, erprobt, sondern versucht, sich eine völlig eigene Sprache zu schaffen, die in der ihn umgebenden Wirklichkeit keinen Rückhalt hat.« 31
Der Schulfreund Carl Rouge hat die philologische Besessenheit Georges mit den damals überall aus dem Boden schießenden »Weltsprachen« in Verbindung gebracht. Es handelte sich um Versuche meist kauziger Einzelgänger, mit Hilfe einer künstlichen Sprache die im Zuge der Globalisierung hinderlichen Sprachbarrieren zu überwinden. Dem von einem badischen Pfarrer entwickelten Volapük, einer Kunstsprache mit eigener Grammatik, folgte 1887 das Esperanto, das die anderen Entwürfe an Einfachheit übertraf und sich bis heute als Hilfssprache behauptet hat. George war jedoch mitnichten daran interessiert, eine Sprache zur Völkerverständigung zu schaffen. Im Gegenteil, Sprache bot ihm die willkommene Möglichkeit, sich
abzusetzen gegen andere, ein Privileg, für Außenstehende unverständlich zu bleiben. »Jeden wahren künstler hat einmal die sehnsucht befallen«, schrieb er wenige Jahre später über Mallarmé, aber mit durchaus autobiographischem Bezug, »in einer sprache sich auszudrücken deren die unheilige menge sich nie bedienen würde oder seine worte so zu stellen dass nur der eingeweihte ihre hehre bestimmung erkenne.« 32
Die in der Schulzeit von ihm entwickelte Geheimsprache hat George ein Leben lang benutzt. In ihr schrieb er Notizen, die er vor anderen geheim halten wollte. Diese Zettel waren »oft mit Stecknadeln an die Wand seines Zimmers geheftet«, berichtet Morwitz. Um 1910 habe ihm George einmal eine solche Notiz gezeigt und ihn gefragt, ob er sie verstehe. »Da mir das Geschriebene als dem Griechischen
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