Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
auch die Überlegung eine Rolle, den Sohn in Pension zu geben. Von Darmstadt konnte er am Samstagnachmittag und in den Ferien ohne große Mühe nach Hause kommen.
Von seinem 15. Lebensjahr an stand George nicht mehr unter direkter Aufsicht. Wenn Schwierigkeiten auftauchten, weil die Schule Beschwerde gegen ihn führte oder die Eltern sich Sorgen machten, habe Philipp Raab, bei dem er während seiner gesamten Darmstädter Zeit einquartiert war, ihn immer in Schutz genommen. 3 Im Haus des katholischen Volksschullehrers in der Neustadt, Riedeselstraße 68, gut zehn Minuten Fußweg vom Gymnasium entfernt, wohnten zwei weitere »Auswärtige«, Johannes Gärtner, der später katholischer Pfarrer in Waldmichelbach wurde, und Wendelin Seebacher aus Klein-Welzheim. Auch Hermann Weigel, später protestantischer Pfarrer in Nieder-Ramstadt, sowie Arthur Stahl aus Friedberg zählten zu den »Auswärtigen« des »Pennals«. Das war der Kreis der Mitschüler, mit denen George hauptsächlich verkehrte. Alle fünf bestanden Ostern 1888 das Abitur.
George habe nur schwer Anschluss an die Einheimischen gefunden, berichtete der engste Gefährte der Darmstädter Zeit, der zwei Jahre jüngere Carl Rouge. »Niemand in der Klasse wollte etwas mit ihm zu tun haben«, erinnerte sich ein anderer Mitschüler, Georg Fuchs, »aber auch er mit niemand aus der Klasse. Im Hofe stand er meistens vereinsamt an der Mauer, blass, fröstelnd, mit verschränkten Armen, über die lärmende Menge hinweg ins Unnennbare starrend, stets mit einem … scharfen, hochmütigen Zug um den schmalen, herben Mund.« 4 Auch den meisten Lehrern begegnete er mit Ablehnung. Man habe ihm »häufig unziemliches Verhalten vorgeworfen«, erzählte George später und zitierte nicht ohne Stolz den Verweis eines Lehrers: »Schon wieder dieses äginetische Lächeln!« 5 Demonstrativ hochmütig zeigte er meist wenig Interesse am Unterricht und fiel eher durch vorlaute Bemerkungen als durch Leistung auf. Dies schlug sich in entsprechend mäßigen Noten nieder; selbst in Deutsch brachte er es im Abitur nur zu einem matten »im ganzen gut«. Wirklich gut war er nur bei Dr. Lenz in Französisch – und in Religion.
Das ehrwürdige Darmstädter Gymnasium, untergebracht in einem ehemaligen Waisenhaus, das in den siebziger Jahren durch zwei Flügelanbauten
stark erweitert worden war, hatte drei Jahre vor Georges Eintritt sein 250-jähriges Bestehen gefeiert. 1629 als lutherische Gelehrtenschule gegründet, lag es in unmittelbarer Nähe zur evangelischen Stadtkirche und zum anschließenden Marktplatz. Die nördliche Seite des Marktes beherrschte, von einem breiten tiefen Graben umgeben, das großherzogliche Schloss, das die Dimensionen der gemütlichen, leicht verschlafenen Residenzstadt etwas aus dem Lot brachte. Der Paradeplatz zwischen Schloss und Schlossgarten und das gewaltige Zeughaus ließen keinen Zweifel, dass dem Militär in dieser Stadt besondere Wertschätzung entgegengebracht wurde. Wolters ging so weit, die Hessen aufgrund ihrer angeblich kriegerischen Eigenschaften und ihrer »Liebe zu soldatischer Zucht« für natürliche Verwandte der Preußen zu erklären. 6
Mit rund 60 000 Einwohnern (einschließlich Garnison) war die Militär- und Beamtenstadt fast achtmal so groß wie Bingen. Dennoch bestimmte auch hier die Gleichförmigkeit der Provinz das Bild des Alltags. Die einzige wirkliche Abwechslung bot das nach einem Brand 1871 neu erbaute Hoftheater, das am Übergang vom Schloss in den Schlossgarten lag und als kleineres Pendant zum Zeughaus unterstrich, dass die Residenz auch kulturell Anspruch erhob. Zwar konnte sich das Darmstädter Haus nicht von fern mit dem berühmten Nationaltheater in Mannheim messen, das seit den Tagen Schillers zu den ersten Bühnen Deutschlands zählte und das George gelegentlich ebenfalls besuchte. Aber für vierzig Pfennig – so viel kosteten die billigen Plätze im sogenannten Olymp, der obersten Galerie – bekam der Zuschauer auch in Darmstadt einiges geboten: das klassische Repertoire des bürgerlichen 19. Jahrhunderts, zeitgenössische Gesellschaftsstücke, Shakespeare und jede Menge Wagner-Opern. 7
Der Dramatiker, der die Jugend Mitte der achtziger Jahre am stärksten beeindruckte, war Henrik Ibsen. Obwohl während Georges Schulzeit in Darmstadt nur ein einziges Stück zur Aufführung gelangte, Stützen der Gesellschaft , 8 wurde der Norweger für ihn binnen kurzem zu einer Instanz. Er begann sich Ibsens sämtliche bis
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