Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
zur Farce geworden.
Er finde die Radikalisierung Bayerns »urkomisch«, notierte Thomas Mann am 5. April 1919 in sein Tagebuch, »kaum mehr als Unfug«. Als die Räterepublik einen Monat später mit Hilfe württembergischer und preußischer Freikorps zusammenkartätscht wurde, war er allerdings doch froh, unversehrt davongekommen zu sein, und spendierte den Soldaten, die man zum Schutz seines Hauses abgestellt hatte, Zigarren. Nachdem er noch am 13. April der Meinung gewesen war, es sei gut, wenn man die linken Idealisten, die in verantwortungsloser Weise den Geist kompromittiert hätten, »als Schädlinge erschösse«, besann er sich Anfang Mai rechtzeitig auf seine künftigen republikanischen Pflichten und unterzeichnete einen Aufruf an das Bürgertum, sich »seiner Schicksalsgemeinschaft mit dem arbeitenden Volke inne zu werden« und die notwendige »Umwandlung der Gesellschaftsordnung« in Angriff zu nehmen. Auf der Linken war schon seit längerem der Vorwurf laut geworden, der große Schriftsteller »mache es sich gar zu leicht mit der Art, in der er wieder Anschluß finden wolle«. 14
Zu den Unterzeichnern des Versöhnungsaufrufs, der am 8. Mai in den Münchner Neuesten Nachrichten erschien, zählte auch Rainer Maria Rilke. In seiner Wohnung in der Ainmillerstraße 34, einen Steinwurf von Georges Wohnung in der Römerstraße entfernt, war während der vergangenen Wochen die Crème der Revolutionäre einund ausgegangen: Kurt Eisner, Ernst Toller, Edgar Jaffé, Erich Mühsam, Alfred Kurella. Im Chaos des Zusammenbruchs Anfang November hatte sich Rilke vorübergehend offenbar ähnliche Hoffnungen gemacht wie George. Weil er vergaß, den Anschlag zu entfernen, mit dem die Räte seine Wohnung unter ihren besonderen Schutz gestellt hatten, kam es Anfang Mai um fünf Uhr in der Früh zu einer peinlichen Haussuchung durch die neuen Machthaber. Erst da begriff der Dichter, wie gefährlich es war, die Ebenen des Geistes und der Macht nicht sorgfältig getrennt zu halten, packte seine Sachen und
reiste für immer aus Deutschland ab. »Dass er ein Dichter war, machte ihn der Polizei verdächtig.« 15
Auf der politischen Bühne schienen die Rollen in diesen Wochen vertauscht. Während Mann und Rilke noch ihren Platz suchten und dabei vorübergehend ins Straucheln gerieten, hatte sich George längst auf die ihm vertraute Position des wissenden Beobachters zurückgezogen, den Tagespolitik nicht kümmerte. Die Aufgeregtheiten rund um die bayerische Revolution waren für ihn jedenfalls kein Grund, länger in München zu bleiben als sonst. Vielleicht saß er gerade im Zug nach Darmstadt, als Heinrich Mann am 16. März im Münchner Odeon die Gedächtnisrede auf Kurt Eisner hielt. Der Ermordete sei »der erste wahrhaft geistige Mensch an der Spitze eines deutschen Staates« gewesen, rief Heinrich Mann und feierte die hundert Tage seiner Regierung, die Deutschland »mehr Ideen, mehr Freuden der Vernunft, mehr Belebung der Geister gebracht« hätten als die letzten fünfzig Jahre zusammen. 16 Das sah George anders. »Die geistigen Lösungen sind schon alle gefunden«, beschied er Ernst Robert Curtius, der ihn Ende April in Heidelberg besuchte. »Die Ereignisse hinken immer schwerfällig nach.« 17
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Er habe etwas Ernstes mit Percy zu besprechen, meinte George an einem jener beschaulichen Münchner Nachmittage im Winter 1919, und der Ton in seiner Stimme ließ den Famulus aufhorchen. George ging »einige Male durch das Gemach hin und her, wie wenn er einen schon gefassten Plan in Gedanken noch ein letztes Mal erwöge«. In Erwartung dessen, was ihm der Dichter eröffnen wollte, stützte sich Gothein mit den Ellenbogen auf die Heizung und drückte seine Stirn gegen die Wand, so dass ihm die warme Luft von unten ins Gesicht stieg und sein Geist auf diese Weise »von allem Verstockten und Unreinen« geläutert wurde. »›Es ist vielleicht sehr gut‹, hub nun der Führer zu sprechen an, indem er gerade vor mir in seinem Auf- und
Abwandern innehielt und mich prüfend ernst ansah, ›wenn Sie nun gewisse Gedichte zu hören bekommen, die noch niemand kennt und die für Sie eine hohe Bedeutung haben werden.‹ Damit ging er an seinen Tisch und holte aus seinen Fächern eine Abschrift hervor.« 18
Nachdem Percy die Broschur bestaunt hatte, las ihm George den Zyklus vor: Er bestand aus acht Gedichten und trug den Titel Sternwandel. Percy wurde sich zum weiteren Mal der eigenen Versäumnisse bewusst: Hier hatte ein offenbar Jüngerer
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