Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Verletzungen des jungen George. Zwar wurde er sich seiner erotischen Neigungen wohl erst allmählich bewusst. Aber die Erkenntnis seiner Homosexualität scheint ihn nicht sonderlich beunruhigt zu haben. Jedenfalls deutet nichts darauf hin, dass er in dieser Frage lange mit sich gehadert hätte. Im Gegensatz zu Thomas Mann, der über den »Urschock« seiner Demütigung durch Armin Martens im Winter 1889/90 nie hinweggekommen ist und seine Gefühle für junge Männer ein Leben lang zu »verstecken, verleugnen, ironisieren« suchte, 40 nahm George die Entdeckung als Herausforderung an.
Ein Junge, von dem wir mit Sicherheit wissen, dass er George während der Darmstädter Schulzeit »tiefer anzog«, 41 war Paul Nodnagel. Der aus Bingen stammende, drei Jahre jüngere Sohn des Oberschulrats, der mit 21 Jahren freiwillig aus dem Leben schied, blieb George als »der schöne, früh verstorbene Sohn des Hofmarschalls« in Erinnerung. Nodnagel hatte sich dem einzigen literarischen Zirkel Darmstadts, dem Kreis um den Erfolgsschriftsteller Wilhelm Walloth
angeschlossen. 1890 erschienen Walloths Gesammelte Gedichte in zwei Bänden bereits in zweiter Auflage, im Jahr darauf veröffentlichte Nodnagel eine Walloth-Biographie. George hat sich später betont abfällig über Walloth und die Darmstädter Jung-Literaten geäußert, »die so einen Roman oder so was wichtig nahmen«. Er sei gelegentlich sogar aufgefordert worden, Walloth Gedichte zur Prüfung vorzulegen, was er selbstverständlich abgelehnt habe: »Da wär ich schon damals (1887) in die Literatur eingeführt worden.« 42
Wenig später hat Walloth indirekt, aber auf empfindliche Weise Georges Pläne durchkreuzt. 1890, im Jahr des Erscheinens der Hymnen , erregte er großes Aufsehen durch den sogenannten Realistenprozess, in dem er, zusammen mit zwei anderen Schriftstellern, wegen Verstoßes gegen den Unzuchts-Paragraphen vor dem Reichsgericht angeklagt wurde. In einer Selbstmordszene seines Romans Der Dämon des Neides (1889) hatte Walloth anklingen lassen, dass der Suizid des Helden mit erotischen Phantasien in Zusammenhang stand; vor seinem Selbstmord hatte er »verschlafen auf die weißen, wie Weiberbusen schimmernden Hügel« gestarrt. Wenn solche Bilder im prüden Deutschland genügten, einen Autor gerichtlich zu belangen, dann, so darf man vermuten, hätten die frühen Gedichte Georges, wären sie damals publik geworden, ihren Verfasser geradewegs ins Zuchthaus gebracht. Diese Gefahr sah auch der Herausgeber der Gesellschaft , Michael Georg Conrad. Als George im Frühsommer 1890 der renommierten Zeitschrift sein Gedicht »Erkenntnis« zur Veröffentlichung anbot, lehnte Conrad mit Hinweis auf den Leipziger Prozess ab; ob George nicht etwas anderes einreichen wolle – »den prüden zum trotz, etwas recht energisches, aber gar nicht erotisches«. 43
»Erkenntnis« offenbart in der Tat höchst eigenartige sexuelle Vorstellungen. 44 Die 127 Verse erzählen von einem jungen Mann, der in einer einsamen Hütte die Frau seiner Träume erwartet. Statt sich auf die bevorstehende Liebesnacht zu freuen, zermartert er sich das Hirn mit der Frage, ob die Braut noch jungfräulich sei. Die Frau schleicht sich an, »gierig nach seiner nähe zauber«, aber er verstößt sie: »rief ich
dich weib? / Nahe dich nur wenn ich deiner bedarf!« Die Frau lässt nicht locker, aber je mehr sie den Mann zu bezirzen glaubt, desto weniger kann sie ihre wahre Natur verbergen:
Indessen ich in qualen mich winde
Will leichter mühe sie mich erobern..
Sie stellt sich ob meines zornes betrübt
Vielleicht auch ist sies weil ihre betörung
An mir nicht so leicht wie an andern gelingt.
Ja grade die zärtlich schmeichelnden weisen
Die ihre schwüre bekräftigen sollen
Mit ihrer feinheit und kunst mir verraten:
Sie wurde durch die probe erfahren..
Nur gaukelspiel ist ihre kindlichkeit.
Schweren Herzens begibt sich der Held dennoch auf das gemeinsame Liebeslager – schließlich braucht er Gewissheit. Unter seinen Küssen entfaltet die Frau ihre ganze Schönheit und Frische, und süßer und herrlicher denn je tritt sie am nächsten Morgen strahlend vor Glück über die Schwelle, »schlecht ihren jubel verhehlend«. Der junge Mann aber ist völlig verstört. Weniger über das Ergebnis seiner Jungfrauenprobe, die nur seinen Verdacht bestätigte, als vielmehr über sein eigenes Verhalten während des Akts, das er als moralische Niederlage empfindet. »Mit einer schandtat kauft ich die lösung.« Während er
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