Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
Vom Netzwerk:
bloß so tat, als gebe er sich ihr hin, wiegte sich die Frau in dem sicheren Gefühl, ihn endlich erobert zu haben: »so wonne-erfüllt / Bedünkten sie die umarmungen echt / Die tierische zuckungen übersüssten.« Ob die falschen Umarmungen des Mannes von Zuckungen der Lust übersüßt oder umgekehrt die tierischen Zuckungen durch Liebesschwüre getarnt werden, bleibt grammatikalisch im Dunkeln, läuft aber auf dasselbe hinaus. Das Gedicht heißt »Erkenntnis«. In der ursprünglichen, von Luther verwendeten Bedeutung des Wortes »erkennt« der Mann die Frau, indem er ihr beiwohnt; im Beischlaf erschließt sich ihm ihr wahres Wesen. Der Held des Gedichts »erkennt« im Vollzug des Akts zugleich seine eigene Verruchtheit. »Das herz voll gift und reuezorn«, flieht er in die Wälder und stürzt sich in den wilden Gebirgsbach, der »hässlich mein bild mir zurückwirft«.

    Die Angst vor allem Geschlechtlichen in Verbindung mit destruktiven, meist gegen die Frau, bisweilen auch gegen sich selbst gerichteten Gewalt- und Todesphantasien ist das durchgehende Motiv der zwischen 1886 und 1889 entstandenen Jugendgedichte. Die sexuellen Verwirrungen der Pubertät, Scham, Ekel und Wut werden in allen Abstufungen thematisiert. Kichernde Najaden, die den Jüngling ins Wasser locken, Sirenen, deren »heisses verderbliches sehnen« die Männer ins Unglück stürzt, Nymphen, in deren Kuss sich Verwesung mischt: Es sind jene Bilder fleischlicher Versuchung, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch die bildende Kunst faszinierten. Aubrey Beardsley, Félicien Rops, Max Klinger und Franz von Stuck waren die Meister eines raffinierten Vexierspiels, das die Lüsternheit des Publikums erfolgreich anstachelte.
    Vor diesem Hintergrund dürfte George die Entdeckung seiner Homoerotik – so paradox dies auf den ersten Blick erscheinen mag – auch als den Beginn einer Befreiung empfunden haben. Die Ideale von Reinheit und Keuschheit ließen sich in der Vorstellung des 18-Jährigen jedenfalls leichter mit Knaben als mit Mädchen in Einklang bringen. Darüber hinaus verschärfte das Bewusstsein, dass Homosexualität tabuisiert war und der bloße Verdacht zu einer Stigmatisierung führte, die Distanz zur Gesellschaft. Die Rolle des Außenseiters, in die er früh hineingewachsen war, erhielt dadurch zusätzliches Gewicht. So entstand um ihn allmählich jene Aura der Diskretion, in der sich seine Persönlichkeit in den nächsten Jahren entfalten sollte.
    Der Übergang von einer noch durch Abwehr bestimmten Befangenheit zu einer neuen, freieren Einstellung gegenüber dem eigenen Geschlecht wird deutlich, wenn man das um 1885 entstandene früheste Gedicht der Gesamtausgabe »Prinz Indra« mit dem bald nach dem Abitur entstandenen Gedicht »Der Schüler« vergleicht. Zwar wird schon der indische Prinz nach seiner Verführung durch die göttliche Hetäre Apsara von einem schönen jungen Freund wieder aufgerichtet: »Ein gewaltig heisses sehnen // Zog ihn hin zu jenem jüngling.« 45 Aber dieser Jüngling kann dem Prinzen nur ein paar Ratschäge mit auf den Weg geben: »Geist und leib musst du verbinden … // Und
den dämon überwinden.« Der Dämon – das ist die sexuelle Begierde der Frau. Prinz Indra findet seinen Seelenfrieden wieder, indem er »Der Apsara wüstem locken« fortan Widerstand leistet.
    Etwa drei Jahre später thematisierte George in »Der Schüler« erstmals die bewusste Wahrnehmung des männlichen Körpers als erregendes Stimulans. 1901 setzte er das Gedicht an den Schluss der Fibel und unterstrich damit, dass die Entdeckung der gleichgeschlechtlichen oder, wie er sie später nennen sollte, »übergeschlechtlichen« Liebe für den 20-Jährigen die alles entscheidende Zäsur bedeutete. Auch wenn er, wie das Gedicht ausführt, zunächst noch unsicher auf männliche Reize reagierte, hatten die Verlockungen eine völlig neue Qualität. Zum ersten Mal schienen ihm sexuelle Versuchungen nicht mehr grundsätzlich bedrohlich zu sein, im Gegenteil: Männliche Erotik übte auf ihn eine berauschende Wirkung aus.
    »Der Schüler« bildet zusammen mit den Gedichten »Erkenntnis« und »Frühlingswende« die Trilogie »Legenden«. Ähnlich wie »Erkenntnis« beschreibt auch »Frühlingswende« einen Initiationsritus auf primitiver Stufe, auch dort graut dem Helden vor den Freuden der Hochzeitsnacht, »die lieber er miede«. 46 Im letzten Gedicht sind die Verführungen subtilerer Art. Der Schüler einer altehrwürdigen

Weitere Kostenlose Bücher