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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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verwandt erschien, versuchte ich von dieser Richtung her den Sinn zu erraten. Was ich hervorbrachte, muss etwas Richtiges enthalten haben, denn zu meinem Vergnügen wurde der Dichter aufgeregt, examinierte mich weiter und gab sich erst zufrieden, als meine Auslegungskunst völlig versagte.« 33 Zu den wenigen persönlichen Dingen, die sich bei Georges Tod in seinem Handkoffer fanden, gehörte ein dünnes blaues Schulheft mit der Übersetzung des ersten Gesangs der Odyssee in die Geheimsprache. Die Erben entschieden, das Heft noch in Minusio zu verbrennen, und so konnte die Philologie bis heute keine überzeugende Lösung anbieten für die beiden Schlusszeilen des 1904 entstandenen Gedichts »Ursprünge«, das einzige Fragment in der Geheimsprache, das überliefert ist:
    Doch an dem flusse im schilfpalaste
Trieb uns der wollust erhabenster schwall:
In einem sange den keiner erfasste
Waren wir heischer und herrscher vom All.
Süss und befeuernd wie Attikas choros
Über die hügel und inseln klang:
CO BESOSO PASOJE PTOROS
CO ES ON HAMA PASOJE BOAÑ. 34

3
    Wie die dramatischen Versuche unterlagen auch die Jugendgedichte Georges dem Zwang der Konvention, auch hier kamen die entscheidenden Impulse aus dem Bildungsfundus des humanistischen Gymnasiums. Als authentische Zeugnisse der Pubertät sind sie biographisch jedoch höchst aufschlussreich. Ihr großes Thema ist die erwachende Sexualität, oder genauer, »die Angst vor der Frau als Verführerin zum Geschlechtlichen«. 35 Seine streng katholische Erziehung lässt ihm nur die Wahl zwischen der Frau als einem bedrohlichen Geschlechtswesen und der hohen Frau, die marienhaft die reine Liebe verkörpert. Auf der Suche nach dieser Einen, die »vielleicht fähig wäre, die ›große‹ Leidenschaft in ihm zu entflammen«, 36 häufen sich die Enttäuschungen. Immer wieder entpuppen sich die schönen Frauen als männermordende, heimtückische Vamps. Aber je niederträchtiger und verruchter die Frauen, desto lustvoller scheint der junge Dichter die Mantel- und Degen-Arrangements zu erfinden, die zu ihrer Enttarnung führen. Am Ende haben die falschen Verführerinnen, denen es stets aufs Neue gelingt, den Mann in Verwirrung zu stürzen, nichts anderes verdient als den Tod.
    Keiner der Darmstädter Zeugen erinnert sich an Beziehungen Georges zu Mädchen. Rouge wusste nur zu berichten, dass George fleißig die Tanzstunden beim alten Dornewas besuchte. Überliefert sind einige floskelhaft höfliche Briefe Georges an Anna Stierstädter, die drei Jahre ältere Tochter eines mit dem Vater befreundeten Limburger Hoteliers. Man besuchte sich gegenseitig zu Familienfesten, und im Anschluss tauschte George mit Anna Briefmarken; seine Briefe an sie schrieb er auf Italienisch, um sie dadurch zu ermutigen, ihre Kenntnisse dieser Sprache ebenfalls anzuwenden. 37 Aufschlussreicher ist eine Anekdote, die George Ende der zwanziger Jahre über seinen Mitpensionär Johannes Gärtner zum Besten gab. Der Arme hatte sich offenbar unsterblich verliebt und litt als angehender katholischer Theologe, der sich auf das Zölibat vorbereitete, doppelte Qual. »Da schlug ich ihm einmal vor, ich würde seine Liebe in einen
Roman bringen, der würde heißen: ›Die Liebe des Klerikers‹ oder ›Das Mädchen mit dem hellen Kleid und dem dunklen Drang‹.« 38 Auf solche Zynismen war George noch vierzig Jahre später stolz.
    Was Georges Neigung zu Knaben anging, berichtet Fuchs von einem »Mitschüler aus wohlhabender Kaufmannsfamilie«, der – so der Chronist im Rückblick noch immer verständnislos – vollkommen ungeistig gewesen sei und kein anderes Interesse gekannt habe, als möglichst rasch ins väterliche Geschäft einzutreten:
    Vermutlich hat er nie erfahren, dass aus dem sonderbaren Menschen, der ihn auf der Schule auf so unbegreifliche Weise an sich gefesselt hielt, ein großer Dichter geworden ist. Ausgerechnet dieser wars nun, mit dem allein George in seiner selbstgeschaffenen Geheimsprache redete und korrespondierte und an den er auch Verse in dieser Sprache richtete. Dieser wars aber auch, der, als ihm das Ausschließlichkeitsverlangen dieses fanatisch strengen Geheimnisvollen anfing, lästig zu werden, diesen, ohne zu ahnen, dass das so tragisch aufgefasst werden würde, anderen gegenüber für ›meschugge‹ erklärte und seine »Phantastereien« dem Gelächter der Mitschüler preisgab, ohne sich weiter dabei etwas zu denken. 39
    In solchen Zurückweisungen bestanden die eigentlichen

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