Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
George hat aber zum ersten Mal in Europa den Gedanken der modernen Diktatur »vergottet« und »verleibt«. Die ganze Ideologie des italienischen Faschismus klingt wie ein Echo der Stimmen aus dem heiligen Hain Georges; alle ihre Leitgedanken: die heldische »Elite«, die »Hierarchie« und der »korporative Rechtsstaat«, sind hier vorgestaltet, und vorgestaltet ist hier zuvörderst auch die heldische Vision des Diktators. 91
Wer sich mit konkreten Erwartungen und in der Hoffnung auf politische Handlungsanleitungen an die Lektüre des Neuen Reiches machte, konnte den Band nur enttäuscht beiseite legen. »Politisches« ließ sich, wenn überhaupt, nur im ersten Teil finden. In sechs großen Gesängen versichert sich George zunächst noch einmal seiner wichtigsten Ahnen und bestimmt zugleich sein Verhältnis zur Gegenwart. »Goethes lezte Nacht in Italien«, die Hölderlin-Trilogie »Hyperion« und »An die Kinder des Meeres«, alle drei vor 1914 entstanden, bilden den Auftakt. Es folgen die drei großen Kriegsgedichte: »Der Krieg« (1917), »Der Dichter in Zeiten der Wirren« (vor 1921) und »Einem jungen Führer im ersten Weltkrieg« (1919). Richtet sich in diesen Gedichten, wie Wolters bemerkt hat, der Blick von innen nach außen, so herrscht in der folgenden Vierergruppe die reine Innenschau. Maximin steht am Anfang, nicht mehr in der Vision Goethes, sondern »leibhaft« schreitend als »das ewige kind«. Den »Winken« folgen die drei »Gebete«, die letzten Anrufungen Maximins, entstanden während des Krieges; dem »Geheimen Deutschland« steht »Burg Falkenstein« zur Seite (zwei Erstveröffentlichungen, wohl beide 1922 entstanden). Die abschließende Vierergruppe besteht aus drei älteren dialogischen Gedichten, in denen der Mensch mit geheimen Mächten der Natur konfrontiert wird, die er nicht zu ergründen vermag; auch
formal scheinen diese Zwiegespräche unmittelbar aus dem Umfeld des Siebenten Rings zu stammen. Mit der szenischen Dichtung »Der Brand des Tempels«, Georges apokalyptischer Deutung des Zusammenbruchs von 1919, schließt der erste Teil, der mehr als die Hälfte des Bandes einnimmt.
Den Mittelteil bilden 51 Widmungsgedichte an vorwiegend jüngere Freunde, unterteilt in 43 »Sprüche an die Lebenden« und acht »Sprüche an die Toten«. 92 Entstanden sind sie über einen Zeitraum von 18 Jahren, zwischen 1910 und 1928: Gelegenheitsgedichte, deren Bedeutung für George wie für die Angesprochenen sich erst aus den jeweiligen biographischen Zusammenhängen voll erschließt. Vergleicht man die »Sprüche« mit den »Preisgedichten auf einige junge Männer und Frauen dieser Zeit« von 1894 oder mit den »Überschriften und Widmungen« im Jahr der Seele , wird die Wegstrecke deutlich, die George zurückgelegt hat. Lag der Reiz der frühen Porträts in dem Versuch, die jeweilige Persönlichkeit möglichst umfassend abzubilden und notfalls durch Verfremdungen zu heroisieren, so zielte George jetzt auf eine möglichst einfache, schmucklose Wiedergabe, bei der es ihm vor allem darauf ankam, Nähe und Verbundenheit mit dem Bewidmeten zu bekunden. Es handelt sich um minimalistische Gedichte, sinnliche, kleine Gebilde im Stil antiker Epigramme, reduziert auf winzige Gesten. Im scheinbar Profanen und Nebensächlichen beschwören sie die Einmaligkeit der Freundschaft und enthüllen zugleich deren Gesetzmäßigkeit. George las den Bewidmeten die für sie bestimmten »Sprüche« manchmal vor und schenkte ihnen gelegentlich auch Abschriften. Am Ende ging es ihm aber, wie schon in den Gedichten des Stern des Bundes , die in den »Sprüchen« formal und inhaltlich fortgesetzt wurden, um die Schaffung des Typus.
Höhepunkte nicht nur des letzten Bandes, sondern des Georgeschen Schaffens insgesamt finden sich in der letzten Abteilung Lieder . Sechs der zwölf Gedichte hatten bereits 1919 in der Elften und Zwölften Folge der Blätter für die Kunst gestanden, vier waren neu. Eines der letzten, entstanden wohl im Frühjahr 1928, spricht von jenem Moment, in dem ein Mensch plötzlich vom Blick eines anderen
bis ins Mark erschüttert wird. Auch ein älterer Mensch, der schon lange seinen Frieden mit der Welt gemacht hat, kann in einem solchen Augenblick noch einmal von einem tiefen Schauer erfasst werden:
In stillste ruh
Besonnenen tags
Bricht jäh ein blick
Der unerahnten schrecks
Die sichre seele stört
So wie auf höhn
Der feste stamm
Stolz reglos ragt
Und dann noch spät ein sturm
Ihn bis zum boden
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