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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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Jeder wusste, dass mit dem ersten der »Kinder des Meeres« Woldemar von Uxkull gemeint und »der Nächste Liebste« in Zeile 7 niemand anderes als Morwitz selbst war. Der Vortrag dieser Gedichte durch Morwitz unterstrich die Sonderstellung, die ihm
auch jetzt noch zukam. Nach Lesung der beiden Kriegsgedichte »Der Dichter in Zeiten der Wirren« und »Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg« durch Erich Boehringer las George selbst; zunächst »Die Winke«, in denen Maximin noch einmal als Anfang und Ende der Georgeschen Gründung gefeiert wurde – »Sterben gern seit wir dein licht gesehn« -, anschließend »Burg Falkenstein« mit der Widmung »an Ernst« und zum Schluss »Geheimes Deutschland«. Alexander Zschokke, der das Privileg erworben hatte, dabei zu sein und Skizzen zu machen, ohne mitzulesen, erinnerte sich:
    Seine Stimme war dunkel und tief erregt. Die Worte standen wie Steinblöcke gereiht im Raum. Der Sinn der Gedichte lag offen und wie ein heller Tag, und das Gesicht des Dichters war gespannt und verletzbar wie eine Glaskugel. Gab es da wirklich einen, der die Zeichen nicht verstand? Aber die beiden Gegner [Morwitz und Kommerell] hatten auch ihre Geschichte, und das Schicksal griff unerbittlich zu. Die letzte beschwörende Zuflucht an das Verwandelnde, das dem Kunstwerk innewohnt … hat versagt. In der Erinnerung aber bleibt mir die Stimme und das Gesicht eines Menschen, der versuchte, seinen Genius anzurufen und einmal noch um seine Hilfe zu flehen. 1
    Anders als beim Heidelberger Treffen 1919, als der sich abzeichnende Konflikt zwischen George und Gundolf nur den Beteiligten selbst bewusst gewesen war, dürfte diesmal keinem in der Runde verborgen geblieben sein, dass die Spannungen zwischen Morwitz und Kommerell ein bedrohliches Ausmaß angenommen hatten und sich höchst nachteilig auf den Geist des Ganzen auszuwirken begannen. Hätte es sich um ein bloßes Eifersuchtsdrama zwischen dem früheren und dem aktuellen Geliebten gehandelt, wäre die Sache für George schnell entschieden gewesen. Aber zum einen verließ er sich in wichtigen, zumal juristischen Fragen nach wie vor auf das Urteil von Morwitz, obwohl man bei ihm ja nie wisse, »aus welchem Grunde er lobe oder tadle«. 2 Zum anderen scheint er geahnt zu haben, dass »der Nächste Liebste« mit seiner geradezu physischen Abneigung gegen Kommerell möglicherweise recht behalten könnte. Morwitz irritierte nicht nur der brennende Ehrgeiz von Kommerell, dem er von Anfang an unterstellte, er habe Georges Nähe nur gesucht, um Karriere
zu machen. Anders als George, der vor solchen Wahrheiten gern die Augen verschloss, sah er auch den Tag voraus, an dem »das Kleinste« erwachsen werden und sich abnabeln würde. Sein Aufbegehren gegen das kreisinterne Reglement war nach Meinung von Morwitz nur eine Frage der Zeit.
    Kommerell hat den Beginn seiner Distanzierung von George auf den Herbst 1928 datiert. An den unmittelbaren Anlass, der dazu führte, dass er über ihr Verhältnis erstmals grundsätzlich nachdachte, konnte er sich später zwar nicht mehr erinnern. Als er zwei Jahre später die Geschichte seiner Trennung von George aufzeichnete, wusste er jedoch gut die Stimmung zu umschreiben, die ihn damals erfasste. »Das ganze Umeinanderleben wie es sich herausgebildet hatte, beruhte auf einer so vollständigen Aufgabe des persönlichen Selbstgefühles, wie ich sie höchstens für einen Jüngling, niemals für einen Mann angemessen und erträglich finden kann.« 3 Kommerell war zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt. Bei der Lesung zur Feier des Neuen Reiches habe er sich, obwohl »schier unerträgliche Monate voraufgegangen waren, noch einmal beschieden, um ein unschätzbares Ganzes menschlicher Beziehungen und Werte nicht zu gefährden«. Es habe sich dabei allerdings nur um einen Aufschub gehandelt, denn nachdem er einmal erkannt habe, »daß eine höhere Altersstufe dergleichen von selbst ausschließe«, sei der Bruch unausweichlich geworden.
    Der Prozess der Ablösung erstreckte sich über zwei Jahre. Gleichsam im Zeitraffer erlebte George noch einmal, was er Jahre zuvor mit Gundolf durchgemacht hatte. Allerdings war Kommerell, nachdem er einmal den Entschluss gefasst hatte, sich zu trennen, deutlich konsequenter als dieser. George selbst bemühte sich zwar eine Zeitlang, ihn zu halten, und fand sich zu einer Reihe von Zugeständnissen bereit; insgesamt aber legte er eine merkwürdige Indifferenz an den Tag. Offenbar fehlte ihm die Kraft, den Kampf,

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