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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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beugt:
     
    So wie das meer
Mit gellem laut
Mit wildem prall
Noch einmal in die lang
Verlassne muschel stösst. 93
    Über den letzten Liedern konnte die Frage nach der Bedeutung des Neuen Reiches schnell verblassen. Fast scheint es, als sollten die martialischen Prophezeiungen, die den Band durchziehen, am Ende durch die Schlichtheit einfacher Verse aufgehoben und für unwirksam erklärt werden. Der Seher kehrt zu seinen Anfängen zurück und wird wieder Dichter. Schon das letzte der großen Gedichte, »Geheimes Deutschland«, schlug einen anderen Ton an als das apokalyptische Kriegsgedicht oder die Heldenvisionen von 1918/19. »Geheimes Deutschland« feierte nicht mehr »Die Hehren, die Helden!«, die 1919 noch auferstehen und das Heer der Kriegstoten auf die Walstatt zurückführen, sondern »die Opferbereiten, die sterben für ihren Traum«. 94
    Als gemeinsamer Grundzug der Lieder schließlich erscheint die Geste des Verzichts. In dem bekannten »Lied« vom Knecht, der »hinaus zum wald« fährt und erst nach Jahren zurückkehrt, als niemand ihn mehr erkennt, hat George zum ersten Mal den Ton des Volkslieds angeschlagen: »Nur kinder horchten seinem lied / Und sassen oft zur
seit.. / Sie sangen’s als er lang schon tot / Bis in die spätste zeit.« Auch das »Seelied«, das Selbstgespräch einer einsamen alten Frau, die im letzten Haus vor den Dünen wohnt und deren ganze Freude darin besteht, dass einmal am Tag ein blondes Kind erscheint, endet in einem fast schon zur Gewissheit gewordenen Umsonst: »Was hat mein ganzer tag gefrommt / Wenn heut das blonde kind nicht kommt.« Sogar »Das Wort« selbst hüllt sich am Ende in Schweigen: »So lernt ich traurig den verzicht: / Kein ding sei wo das wort gebricht.« 95
    Die Gedichte am Ende des Neuen Reichs zeigen einen George, den zeit seines Lebens nur wenige sahen. Wer den Band heute aufschlägt, sucht die Antwort auf die Frage, was mit dem Neuen Reich gemeint gewesen sein könnte, lieber hier als auf den vorderen Seiten. »Der nationale Gehalt des Buches wird voraussichtlich, der vielfachen Deutung halber, die er zulässt, sehr verschieden ausgemünzt werden«, schrieb ein Schweizer Rezensent und empfahl umso nachdrücklicher, sich dem dichterischen Gehalt zuzuwenden, insbesondere den Liedern . 96 Die Mahnung gilt heute erst recht. Ohne die Lieder wäre das Georgesche Werk unvollkommen. Und angesichts der ideologischen Verheerungen, zu denen es partiell beigetragen hat, möglicherweise nur noch von historischem und philologischem Interesse – gäbe es auf den letzten Seiten nicht Gedichte wie dieses:
    Horch was die dumpfe erde spricht:
Du frei wie vogel oder fisch –
Worin du hängst, das weisst du nicht.
     
    Vielleicht entdeckt ein spätrer mund:
Du sassest mit an unsrem tisch
Du zehrtest mit von unsrem pfund.
     
    Dir kam ein schön und neu gesicht
Doch zeit ward alt, heut lebt kein mann
Ob er je kommt das weisst du nicht
     
    Der dies gesicht noch sehen kann. 97

5 Exodus
    Anfang November 1928 traf sich der Freundeskreis in Thormaehlens Atelier zu seiner letzten großen Lesung. Äußerer Anlass war das Erscheinen des Neuen Reiches . Die Zusammensetzung der Runde ließ erkennen, wie sehr sich der Kreis seit dem Heidelberger Pfingsttreffen 1919 verändert hatte. Außer Morwitz und Thormaehlen, die als Einzige auch an der Vorkriegslesung 1913 in München teilgenommen hatten, waren nur Albrecht von Blumenthal und Erich Boehringer erneut dabei, außerdem der 1919 verhinderte Bernhard von Schweinitz. Die Übrigen nahmen zum ersten Mal an einer so großen Lesung teil: Kommerell und die Brüder Anton sowie die Brüder Stauffenberg mit ihrem Schulkameraden Frank Mehnert. Der Freund von Berthold und Claus, den George vier Jahre zuvor als 15-Jährigen erstmals zu Gesicht bekommen hatte und der zum engsten Gefährten seines letzten Lebensabschnitts werden sollte, saß – ein Zeichen besonderer Gunst – während der Lesung neben ihm. Auch Morwitz hatte zwei Neophyten mitgebracht, an deren Entwicklung George seit einiger Zeit regen Anteil nahm: den 21-jährigen Silvio Markees und den 16-jährigen Bernhard von Bothmer.
    Obwohl sein Verhältnis zu George wegen der Rivalität mit Kommerell seit geraumer Zeit schwer belastet war und seine beiden Zöglinge eine Minderheit stellten, durfte Morwitz als der älteste Vertraute die Lesung eröffnen. Er las die drei großen Anfangsgedichte »Goethes lezte Nacht in Italien«, »Hyperion I – III« und »An die Kinder des Meeres«.

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