Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
»Aus
der Stimme eines einsamen Einzelnen ist eine Stimme von Hunderttausenden, eine Stimme des Volkes geworden.« 7
War es das, was er gewollt hat?
Adolf Hitler war seit einem halben Jahr an der Macht. Als er am Vormittag des 30. Januar 1933 von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wurde, erfreute sich Stefan George des herrlich milden Klimas an den oberitalienischen Seen. In Minusio am Lago Maggiore, einer kleinen Gemeinde bei Locarno, hatte er bereits den Winter 1931/32 verbracht. Die Wohnsituation in Berlin war immer schwieriger geworden, seit George kein eigenes »Staatshaus« mehr zur Verfügung stand. Freunde, die ihn in Berlin besuchten – wie Albrecht von Blumenthal, der die Anhänge der Gesamtausgabe betreute, oder Berthold von Stauffenberg, der öfters aus Den Haag herüberkam -, mussten jetzt häufig im Hotel übernachten. Tagsüber hielt sich George meist im »Achilleion« auf, der Werkstatt von Thormaehlen, der nach wie vor an der Nationalgalerie arbeitete. Hier empfing er seine Besucher, während in der darunter liegenden, über eine enge Wendeltreppe erreichbaren Wohnung die Epheben für das Mittagessen sorgten – »jezt muss der Phaidros wieder in die Küch«. 8 Als Schlafstätte nutzte George die Albrecht-Achilles-Straße 3 jedoch nur noch selten. Zum einen bot die Zweizimmerwohnung wenig Rückzugsmöglichkeit, zum anderen ging er mit zunehmendem Alter gern früh zu Bett – oft schon gegen neun Uhr -, und der Lärm vom nahen Kurfürstendamm störte ihn. Man könne nicht einmal spazieren gehen, weil man an jeder »Ecke minutenlang warten müsse, bis die Autos vorüber seien«. 9
Übernachtet hat George während der letzten Jahre in Berlin meist in der Boetticherstraße 15c im südlichen Dahlem. Das Haus gehörte der 1900 in Barcelona geborenen Clotilde Schlayer, die es nach Beendigung ihres Romanistikstudiums 1927 erworben hatte. Sie lebte hier gemeinsam mit dem drei Jahre jüngeren Walter Kempner, mit dem sie seit ihren Heidelberger Studientagen liiert war. Ihr Wunsch, der Freundeskreis möge in ihrem Haus sein »Hauptquartier« aufschlagen, 10 ging allerdings nicht in Erfüllung. Obwohl George zwischen
1927 und 1933 regelmäßig dort nächtigte, wussten nur wenige, wohin er abends gebracht wurde. Walter Kempner, der George 1924 in Heidelberg kennengelernt hatte und ihn in den letzten Jahren seines Lebens medizinisch betreute, arbeitete als Assistent des Chirurgen Ferdinand Sauerbruch an der Charité. Wenn er abends mit dem Wagen nach Hause fuhr, holte er George in der Albrecht-Achilles-Straße ab. Über seinen Bruder Robert, der als Justitiar im Referat zur Beobachtung rechtsradikaler Parteien des preußischen Innenministeriums arbeitete, war er über die politische Entwicklung gut unterrichtet; Robert Kempner machte sich 1945 als amerikanischer Vertreter der Anklage bei den Nürnberger Prozessen einen Namen.
Clotilde Schlayer, von George gern die »Z«, die Zuckerne genannt, stellte nicht nur das Berliner Quartier zur Verfügung, sie hatte auch das Refugium in Minusio entdeckt. Ein Haus zum Überwintern im Süden war George schon deshalb willkommen, weil ihm Nässe und Kälte seit seiner Krankheit immer mehr zusetzten. Er liebte Rivierawetter, »Treibhausluft«, und meinte, der Süden sei doch »die Universalkur für alles«. 11 Anfang 1926 war er mit Kommerell und Anton zum ersten Mal in Locarno gewesen, im März 1928 hatte er mit Johann Anton und Berthold von Stauffenberg zehn Tage Ferien dort verbracht. 12 Weil Clotilde Schlayer sicher war, das Richtige für ihn gefunden zu haben, hat sie die alte Mühle – Molino dell’Orso – im Sommer 1931 gleich gemietet. Auf derselben Reise sorgte sie auch für ein neues Ferienquartier in Wasserburg am Bodensee, ein bezauberndes, unmittelbar am Wasser gelegenes Haus mit Garten, das ihrem Bruder Karl gehörte. 13
Nach dem Selbstmord Antons am 27. Februar 1931 war George zunächst länger als sonst in Berlin geblieben, dann nach Königstein und von dort Ende Juli erstmals nach Wasserburg gefahren. Nach einem Kurzbesuch in Berlin traf er am 1. Oktober 1931 in Minusio ein. »Ich wohne in einem ruhigen, südlich-reizvollen privathäuschen etwas oberhalb Locarnos wo ich das lezte mal vor 3 1/2 jahren mich aufhielt«, schrieb er zehn Tage später an die Schwester. »Nachdem man in Berlin sich schon fast auf den winter vorbereitete, traf man
hier noch in den schönsten spätsommer: fast ein tag um den andern ist gleich schön und nur am frühen
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