Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
untergehen der sonne merkt man den herbst.« 14 George blieb bis Ende April – sieben Monate. Zu keinem Zeitpunkt seines erwachsenen Lebens hielt er sich ohne Unterbrechung so lang an einem einzigen Ort auf.
Im März 1932 nahm George von Minusio aus regen Anteil an der Reichspräsidentenwahl. Weil Hindenburg im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit verfehlte, kam es am 10. April zu einem zweiten Wahlgang, in dem er sechs Millionen Stimmen mehr auf sich vereinigen konnte als Hitler. Hindenburg sei reaktionär und viel zu alt, erregte sich Claus von Stauffenberg; wenn er zur Wahl hätte gehen dürfen – Soldaten waren nicht wahlberechtigt -, hätte er für Hitler gestimmt. 15 George war vom Wahlergebnis überrascht. »Es ist immer ein klein wenig anders als man denkt«, schrieb er am 16. März an Mehnert. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass er mit einem Sieg Hindenburgs im ersten Wahlgang gerechnet hatte – aber »meine ansicht möchte ich dem papier nicht anvertrauen«. 16
Das Jahr 1932 verlief ähnlich wie das Jahr zuvor: Bis Mitte Juni hielt sich George in Berlin auf, dann fuhr er über Königstein und Darmstadt an den Bodensee für die Sommerferien, um im November von Berlin erneut nach Minusio aufzubrechen. Anfang März 1933 ging es von dort zurück nach Berlin. So entsprach es jetzt seinem Rhythmus.
Hätte er diesmal nicht fahren sollen?
Am 28. Februar 1933, dem Tag, an dem Wolfskehl Deutschland verließ, hatte die Notverordnung des Reichspräsidenten »zum Schutz von Volk und Staat« wesentliche Grundrechte außer Kraft gesetzt. Bei den Wahlen fünf Tage später erlangten die Nationalsozialisten gemeinsam mit den Deutschnationalen knapp 52 Prozent. Die Eröffnungsfeier des neuen Reichstags am 21. März wurde von Goebbels in der Potsdamer Garnisonkirche symbolträchtig als nationales Spektakel inszeniert. Draußen machte sich der Terror breit. Am 22. März wurde in Dachau das erste Konzentrationslager eingerichtet, zwei Tage später bestimmte das Gesetz »zur Behebung der Not
von Volk und Reich«, dass Gesetze ab sofort ohne parlamentarisches Verfahren erlassen werden konnten. Die ersten organisierten Ausschreitungen gegen Juden – der Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte, Rechtsanwälte – folgten am 1. April.
Das war das Deutschland, in das George am Wochenende nach den Reichstagswahlen vom 5. März zurückkehrte. Am Montag, dem 13. März, starb Berthold Vallentin, seit einem Schlaganfall im Frühjahr 1932 gelähmt und verwirrt; seine Frau Diana, deren Gedichtvortrag einst für alle Freunde zum Maßstab geworden war, hatte sich zwei Wochen vorher das Leben genommen. 17 Im Anschluss an Vallentins Einäscherung kam es zwischen Boehringer und Hildebrandt zu einem lautstarken Streit. 18 Boehringer, der schon lange in der Schweiz wohnte und sich eben dauerhaft in Genf niedergelassen hatte, war der Einzige unter den Freunden Georges, jedenfalls der einzige Nichtjude, der in diesen Monaten deutlich Stellung gegen das neue Regime bezog. Weil er dabei mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hielt, hatte George jüngere Freunde schon Ende 1931 gebeten, in Roberts Gegenwart keine politischen Themen anzusprechen. Im Sommer 1933 sträubte sich Boehringer, nach Wasserburg zu kommen. Als George am 24. August 1933 in Begleitung Mehnerts und Berthold von Stauffenbergs ins schweizerische Rorschach übersetzte, meinte er hinterher zu Boehringer, »als das Schiff mitten auf dem Bodensee gewesen sei, habe er freier geatmet«. Er sagte es scherzend , wie Boehringer betonte, und das hieß: Er, der Robert, übertreibe doch wohl ein wenig mit seiner Deutschland-Phobie. 19
Alle anderen, mit denen George in den Jahren 1932/33 viel zusammen war – Thormaehlen, Blumenthal, die Stauffenberg-Brüder, Frank Mehnert -, waren von dem neuen Regime begeistert. Für die Jüngeren sei es sehr schwer, räumte Morwitz ein, »die Texte Georges zu lesen und nicht zu glauben, was in Deutschland jetzt geschehe, sei das, was George gewollt habe«. 20 Von der »Judensach« abgesehen, stand auch George selbst der Entwicklung aufgeschlossen gegenüber. »Es sei doch immerhin das erste Mal«, hörte ihn Edith Landmann im März 1933 sagen, »dass Auffassungen, die er vertreten habe, ihm von
außen wiederklängen.« 21 Es ist nicht schwer, Äußerungen dieser Art als Bekenntnis zum Nationalsozialismus auszulegen. Sie sollten jedoch nicht überbewertet werden. Zwar hörte er zu, wenn seine jungen Freunde mit Eifer die Lage debattierten, aber
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