Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Hochzeitspaar fuhr weiter nach Rom. Berthold dürfte an diesem Tag schmerzlich empfunden haben, was es bedeutete, bei George in der ersten Reihe zu stehen. Er selbst hätte nämlich auch gern geheiratet, aber der Meister hatte sich wiederholt gegen die Ehe mit Maria (Mika) Classen ausgesprochen. 61
Berthold fiel sofort der schlechte Zustand Georges auf, der sich schwach fühlte und keinen Appetit hatte. Er benachrichtigte Mehnert, der sich mit Kempner beriet. Als Stauffenberg am 1. Oktober aufbrach, ging es dem Meister »entschieden besser«. 62 Mehnert arbeitete im Achilleion an neuen Köpfen und zögerte seine Abreise aus Berlin hinaus. Als er vier Wochen später in Minusio eintraf, hatte der Kranke das Bett verlassen und schien auf dem Weg der Besserung. Boehringer, der ihn im Oktober zweimal besucht hatte, empfahl trotzdem, den Urologen in Basel aufzusuchen, den George schon 1924 konsultiert hatte. George hielt sich jedoch lieber an Walter Kempner, der intern jetzt nur noch »d.A.« genannt wurde, der Arzt: »Der hat sich das sozusagen zur Lebensaufgabe gesetzt.« 63
Mitte November begann George wieder zu rauchen. Zwei Wochen später, zu Beginn der Gänsezeit, bat er, ihm aus Basel Gänsestopfleber
zu schicken, nicht die teure in Terrinen, sondern hausgemachte. Statt verdünntem Bordeaux trank er zum ersten Mal wieder Niersteiner. Nachdem er am Sonntag, dem 26. November, bereits zum Frühstück mehrere Sardinen-, Käse- und Schinkenbrötchen verzehrt hatte, sackte er nach einem etwas zu üppigen Mittagessen – Entenbrust mit Rübchen und Kartoffelbrei, Salat, zum Nachtisch Milchreis mit Arrak, dazu ein Glas Weißwein verdünnt – »unmittelbar nach dem lezten bissen, beim abräumen des geschirrs« gegen 13.20 Uhr in seinem Stuhl zusammen. 64 Da George mehrmals das Kinn auf die Brust fiel, dachte Mehnert zunächst, er schlafe ein. Aber dann lief ihm ein wenig Milchreis aus dem Mundwinkel, kalter starker Schweiss brach aus, und das Gesicht färbte sich grünlich-weiß. Als George nach etwa zwei Minuten aus seiner Ohnmacht erwachte, führten ihn Mehnert und Clotilde Schlayer zum Bett, Mehnert zog ihm ein neues Hemd an. George verspürte starke Schmerzen in der rechten Seite. Gegen 15.30 Uhr traf der von Clotilde Schlayer herbeigerufene Arzt ein, der auf Drängen Georges Cibalgin verschrieb, ein Schmerzmittel, das Mehnert anschließend in der Apotheke besorgte. Um 19.00 Uhr, zur gewohnten Zeit, nahm George ein kleines Abendessen zu sich: Haferschleim und ein wenig Apfelbrei. Die Ruhebank im Atelier wurde in Georges Schlafzimmer getragen, damit Mehnert in der Nacht bei ihm sein konnte. Es folgten grauenhafte Stunden mit mehreren Schüttelfrost-Attacken und Erbrechen. Zweimal wurde der Arzt angerufen; beim ersten Mal empfahl er Kampfertabletten, gegen 3.45 Uhr kam er vorbei und gab George eine Kampferspritze. Nach drei Stunden Schlaf schien George das Schlimmste überstanden zu haben. Am Morgen erinnerte er sich, dass er als junger Mann einmal unter Schüttelfrost-Anfällen gelitten habe; das sei nach einem Ausflug nach Mainz gewesen, wo viel getrunken und gegessen wurde. Seine Mutter habe die ganze Nacht an seinem Bett gesessen und seine Hand gehalten. Am nächsten Tag sei Gérardy nach Bingen gekommen, und alles sei wie weggeblasen gewesen. 65
Als George am Montagabend erneut kollabierte, wurde er gegen 21.00 Uhr bewusstlos in seinem Korbstuhl in die nahe gelegene Klinik
Sant’ Agnese in Muralto getragen. Georges Atmung setzte mehrfach aus, er fiel immer wieder in Ohnmacht. Mehnert schickte Telegramme an die nächsten Freunde. Am Mittwoch kam Kempner; er war losgefahren, obwohl ihm die Charité keinen Urlaub bewilligt hatte. Boehringer, der geschäftlich in Paris war, traf am nächsten Abend in Locarno ein. George erkannte ihn nicht. »Ach, Robert«, sagte er am Freitagmittag einmal. Weitere Telegramme wurden aufgegeben. Als am Samstagmorgen eine Krankenschwester Kempner aufforderte, sich hinzulegen, er habe jetzt schon so lange nicht geschlafen, sagte George, »das mache nichts, er habe auch manche Nacht für die andern gewacht«. Die Schluckbeschwerden wurden heftiger, der Puls sank immer wieder ab, am Samstagmittag kamen Herzprobleme hinzu. »Am Sonntagabend wich der Schlucken einem mühsamen, lauten Atmen, das schließlich in Röcheln überging.« Um 1.15 Uhr in der Nacht auf Montag trat der Tod durch Herzstillstand ein. Es war der 4. Dezember 1933. 66
Übers Wochenende waren einige der engsten Freunde in
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