Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Locarno eingetroffen. Sie traten in den großen abgedunkelten Raum, in den das Bett hineinragte, und konnten rundum an der Wand stehend Abschied nehmen, ohne dass der Sterbende sie erkannte. Wenn einer zu nahe trat, machte er eine Geste, als würde allzu große Nähe ihn bedrängen. Diejenigen, die ihn noch lebend sahen, waren, neben Robert Boehringer und Frank Mehnert, in alphabetischer Reihenfolge (auf das Protokoll wurde im Streit um die Nachfolge besonderer Wert gelegt): Walter Anton, Albrecht von Blumenthal, Karl Josef Partsch, Alexander, Berthold und Claus von Stauffenberg sowie Ludwig Thormaehlen.
Da George nicht bestimmt hatte, wo er begraben sein wollte, musste zunächst über den geeigneten Ort entschieden werden. Ein deutscher Dichter gehöre in deutsche Erde, meinte Mehnert. Boehringer vertrat die Auffassung, ein Mensch sollte da beerdigt werden, wo er gestorben sei, das habe auch George einmal gesagt. Bingen oder Minusio? Die beiden verständigten sich darauf, die Frage Georges Schwester vorzulegen. Sie riefen noch in der Nacht Ernst Gundolf in
Darmstadt an, der am Morgen nach Bingen fuhr und Anna vom Tod ihres Bruders unterrichtete. Den Ort der Beerdigung sollten die Freunde bestimmen. Boehringer setzte sich durch; ausschlaggebend waren wohl praktische Gründe. Und doch – das wusste Boehringer genau – war es von ungeheurem Symbolwert für alle Zweifelnden, die auf ein Zeichen warteten, dass George hier, außerhalb des neuen Deutschland, auf der Grenze zwischen Nord und Süd, seine letzte Ruhestätte fand. »So wie ihn dies letzte Jahr nicht um einen Haarstrich aus der Bahn hat bringen können«, schrieb Wolfskehl zwei Wochen später, »so liegt er wo er wollte am letzten Südrand des Reiches für das er sich und seine Welt erbaut hat.« 67
Am Abend trugen Freunde den Toten in einem Eichensarg in die Grabkapelle des Friedhofs von Minusio; an der Mauer zum angrenzenden Schulhof war eine Grabstätte frei. Claus von Stauffenberg organisierte ab 20.30 Uhr die im Tessin übliche Totenwache. Einbezogen wurden auch die im Laufe des Dienstag eintreffenden Ernst Morwitz, Ernst Kantorowicz, Erich Boehringer und Woldemar von Uxkull sowie die drei Berner Wilhelm Stein, Robert von Steiger und Michael Stettler; Totenwache übernahmen außerdem Walter Kempner und Clotilde Schlayer, des weiteren Edith Landmann mit ihrem ältesten Sohn Georg Peter, der im Oktober in Minusio ausgeholfen hatte. Am Dienstagabend wurde der Sarg noch einmal geöffnet. »Sein Antlitz war von unbeschreiblicher Hoheit … Um die Oberlippe spielte ein feiner Zug von überlegenem Wissen; man konnte meinen, innen lächle er.« 68 Bis Mittwoch früh standen rund um die Uhr jeweils zwei Freunde am Sarg, die erste und die letzte Wache übernahmen Berthold von Stauffenberg und Frank Mehnert. Die Beerdigung fand am 6. Dezember um 8.15 Uhr statt.
Die Zahl der Trauernden, die sich in der engen Friedhofskapelle einfanden, hatte sich auf 25 erhöht. Neben den Genannten standen Clotilde Schlayers Schwägerin Gerda, Helmut Küpper, der anderthalb Jahre später den Bondi Verlag übernehmen sollte, Silvio Markees, der jüngere Freund von Morwitz, sowie, in der Nacht um 2.00 Uhr mit dem Zug aus Rom eingetroffen, Karl und Hanna Wolfskehl.
Es wurden zwölf Gedichte vom Anfang des Maximin -Zyklus gelesen; als Letzter las der Jüngste, Cajo Partsch:
Du rufst uns an, uns weinende im finstern:
Auf! tore allesamt!
Verlöschen muss der kerzen bleiches glinstern,
Nun schliesst das totenamt! 69
Als die Schlusszeilen verklungen waren – »Und soviel blumen hinzuschütten / Dass wir dein grab nicht sehn« -, wurde der Sarg von Freunden hinausgetragen und in die Grube gelassen. Die schwere Granitplatte wurde geschlossen und mit den Lorbeerbäumchen aus der Friedhofskapelle umstellt. Dann sprachen drei Freunde den Schlusschor aus dem Stern des Bundes . 70 »Als wir uns von der Gruft wegwandten«, schrieb Hanna Wolfskehl am nächsten Tag an Albert Verwey, »ging drüben über den hohen Bergen die Sonne auf!« 71 Man trennte sich schnell, jeder fuhr in seine Richtung.
Schon am Bahnhof in Locarno wurde Ernst Kantorowicz von der politischen Wirklichkeit eingeholt. »Als er den Zug bestieg, sah er, wie an einem anderen Wagenfenster einer der ›Freunde‹ die Hand zum neu-deutschen Gruß hob und wie vom Bahnsteig zwei der Jüngsten in gleicher Form erwiderten.« 72
Die beiden auf dem Bahnsteig dürften Frank Mehnert und Cajo Partsch gewesen sein, die mit Boehringer in
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