Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
deutsch. Er nahm die Hymnen am Abend mit ins Café Voltaire. Dort hätten einige Kollegen, »unterstützt durch meine Erläuterungen zur Person des Verfassers«, gemeinsam zu übersetzen versucht. Zufällig sei an diesem Abend auch Verlaine da gewesen, der den Band »mit Sachkenntnis ausgiebig durchgeblättert hat«; Mallarmé sei ebenfalls »entzückt« gewesen. 19 Das klang sehr liebenswürdig, sehr flott, sehr nach Boheme, aber wohl doch ein wenig zu überschwenglich angesichts der Tatsache, dass keiner von denen, die in dem Band herumblätterten, deutsch verstand. Dennoch war der spontane Zuspruch wichtig. Vor allem die Reaktionen Mallarmés dürften George gefreut und ihm neue Zuversicht
gegeben haben. Zwar wusste er so gut wie andere, dass dessen formvollendet höfliche Dankschreiben vollkommen unverbindlich waren. Aber sollte er nicht einen Augenblick wenigstens gerührt sein, wenn er etwa im Februar 1893 lesen konnte, der Algabal sei ihm, Mallarmé, obwohl er die Verse »nur schwer in einer mir nicht bekannten Sprache entziffere, rein intuitiv sogleich vertraut« vorgekommen. Peinlich wurde es im Frühjahr 1897, als Mallarmé eine begeisterte Karte an Alfred Lord Douglas, den Freund von Oscar Wilde, in einen an Karl Wolfskehl adressierten Umschlag steckte, dem er eine nicht weniger begeisterte Karte zugedacht hatte. George musste vermitteln. Die Karte an »Mon cher Poète« im Nachlass Georges ist auf so elegante Weise nichtssagend, dass sie tatsächlich sowohl an Douglas als auch an Wolfskehl gerichtet sein könnte. 20 Nach Erhalt des mehrfarbig gedruckten Jahrs der Seele im Januar 1898 glaubte Mallarmé im Wechsel von roten und blauen Initialen eine »tiefere Bedeutung« vermuten zu dürfen – viel war das nicht. 21
Seit Anfang der achtziger Jahre galt Stephane Mallarmé als die maßgebliche Autorität des literarischen Paris. Er war derjenige, der nach allgemeiner Auffassung das Handwerk des Dichtens am besten beherrschte, er war der Meister, dessen Urteil den Ausschlag gab. Auch für George, der 1893 bewundernd schrieb: »Deshalb o dichter nennen dich genossen und jünger so gerne meister, weil du am wenigsten nachgeahmt werden kannst und doch so grosses über sie vermochtest.« 22 In der Charakterisierung des Meisters glaubt man einen ersten zaghaften Versuch zu einem Selbstporträt zu erkennen. Schließlich wurde George zu diesem Zeitpunkt bereits selber als Meister apostrophiert, wenn auch nur von seinem treuen Schatten Carl August Klein, dem Herausgeber der Blätter für die Kunst .
Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Begegnung mit Mallarmé nahm Etienne George jetzt seinen ursprünglichen Vornamen Stefan an. Er dürfte mit Sicherheit nicht gewusst haben, dass Mallarmé auf den Namen Etienne getauft war, ihn aber durch die griechische Form ersetzt hatte, weil Etienne allzu deutlich die kleinbürgerliche Herkunft verriet. 23 Mit dieser hatte es der »maître« ähnlich schwer wie
sein Bewunderer aus Bingen. Im Internat behauptete er vor seinen Mitschülern, er sei der junge Graf von Boulainvilliers, der inkognito leben müsse. Seine Vergangenheit blieb auch später für viele ein Geheimnis. 1842 in Paris als Sohn eines kleinen Beamten geboren, war er dreißig Jahre lang Englischlehrer (die ersten acht Jahre in der Provinz, dann in Paris). Fünf Jahre nach seiner vorzeitigen Pensionierung starb er am 9. September 1898 in seinem Refugium vor den Toren der Stadt.
Zwanzig Jahre lang war die rue de Rome im rußigen Norden von Paris die Wallfahrtsstätte der Pariser Literaten. Dienstags gegen 21 Uhr konnte, wer zugelassen war, über eine unbeleuchtete Rundtreppe in den vierten Stock steigen und klingeln. Der Dichter oder seine Tochter öffnete. Durch einen kleinen Vorraum gelangte man in das berühmte braune Esszimmer: in der Mitte ein großer Tisch, an dem 14 Personen Platz fanden, ein Kachelofen in der einen, eine hohe Uhr in der anderen Ecke, in einem Vogelbauer zwei Papageien. Gegen halb zehn wurde Grog gereicht und zum ersten Mal gelüftet. Der Hund Saladin oder die Katze Lilith strichen den Gästen um die Beine. Der Meister, von kleiner, schlanker Gestalt, empfing stets in gleicher Montur, »in dunkelblauer Flanelljacke und Filzpantoffeln, auch bei großer Hitze stets eine karierte Flauschdecke über die fröstelnden Schultern gebreitet«. 24 Erst nach Mitternacht löste sich die Runde auf. Man stieg die Treppe hinunter, stellte den Leuchter im Hausflur ab und trat auf die Straße in der
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