Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
für würdig befunden worden, in den Vorhof der Kunst einzutreten. Hier wurde ihm bald klar, dass Dichten mehr war als ein Handwerk. Die Symbolisten hätten ihn »nicht in der Sprache beeinflusst, wohl aber auf das tiefste in der Gebärde des Lebens, die dann in ihm wieder Kunst geworden sei«. 30 Mit der ein wenig rätselhaften Chiffre »Gebärde des Lebens« dürfte George die Beeinflussung seines Habitus durch die Pariser Szene ziemlich genau umschrieben haben. Anfang der neunziger Jahre lernte er dort jenes Modell kennen, das zur Grundlage seines eigenen Erfolgs werden sollte: Dichtung als Haltung.
Dass George sich an den Dienstagabenden nicht wirklich wohl fühlte, lag vor allem an der hochgradig intellektuellen Atmosphäre, in der dort Kunst und Dichtung wie mit dem Sezierbesteck zerlegt wurden. Diese ambitionierten jungen Leute sprachen zwar allesamt brillant über Literatur, aber sie repräsentierten alles andere als eine Künstlergemeinschaft. Menschlich hatten sie wenig gemeinsam, und am allerwenigsten interessierten sie sich für den Besucher aus Deutschland, der so selten den Mund aufmachte. Abgesehen davon, dass er aufgrund mangelnder Kenntnisse der französischen Literatur kaum etwas Originelles hätte beitragen können, war George auch in der Konversation gänzlich unerfahren. Wie sollte er sich als Außenseiter in solche hochkarätigen Debatten einbringen? Es war für ihn eine bittere Erkenntnis, dass er trotz aller Gemeinsamkeiten des künstlerischen Wollens keinen Anschluss fand und sich auch menschlich für keinen der französischen Dichter mit Ausnahme Saint-Pauls erwärmen konnte. Während sie in ihrem Element waren, wenn sie im Anschluss an die Soireen über die Boulevards zogen und sich in klugen Nachbetrachungen gegenseitig überboten, fühlte er sich zunehmend isoliert. Keinem von ihnen sei seine Einsamkeit jemals aufgefallen, klagte George später, »mein Wahres verstanden sie freilich nicht«. 31
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»Was sagen Sie zu meinem Plan, den Deutschen eine Kostprobe aus den Übertragungen von Baudelaire zu geben«, fragte George im März 1891 seinen Mentor Saint-Paul, »denn mit wem soll man beginnen, wenn nicht mit Baudelaire?« 32 Unter Saint-Pauls Anleitung hatte sich George Schritt für Schritt in die neuere französische Literatur eingelesen und dabei konsequent Texte, die ihm gefielen und die er für wichtig hielt, abgeschrieben. So kam ein Vademekum zustande, in dem sich Kostbarkeiten fanden wie L’Après-Midi d’un Faune und Hérodiade von Mallarmé, mehrere Stücke aus dem seltenen Gaspard
de la Nuit des Aloysius Bertrand oder Gedichte von Gustave Kahn und Jules Laforgue. Vieles davon hat George Anfang der neunziger Jahre übersetzt und in den Blättern für die Kunst veröffentlicht. Als er diese Übersetzungen 1905 für den zweiten Band der Zeitgenössischen Dichter kritisch durchsah, hielt neben Verlaine, Rimbaud und Mallarmé als Einziger Henri de Régnier der Überprüfung stand. 16 Jahre nach seinem Eintauchen in die Pariser Symbolistenszene war George nicht einmal mehr aus Dankbarkeit zu einer Reminiszenz bereit und strich die Gedichte von Stuart Merrill, Jean Moréas und Francis Viélé-Griffin – ja sogar die sechs von ihm im Mai 1893 publizierten Gedichte Albert Saint-Pauls.
Baudelaire bildete in vieler Hinsicht eine Ausnahme. Seine 1857 (im selben Jahr wie Madame Bovary ) erschienenen Fleurs du Mal waren die Sammlung, auf die sich ein Vierteljahrhundert später alle Neueren beriefen, und auch für George stand die überragende Bedeutung Baudelaires außer Zweifel. Aber selbst in diesem Fall konnte er Vorbehalte nicht unterdrücken. So wie ihn bei manchen Schülern Mallarmés die Tendenz zur reinen Form als Selbstzweck irritierte, so störten ihn bei Baudelaire »die abschreckenden und widrigen bilder die den Meister eine zeit lang verlockten«. 33 Schockwirkung als Stilmittel blieb ihm fremd. Stattdessen suchte er in seinen Übersetzungen »die glühende geistigkeit« hervorzuheben, mit der Baudelaire »der dichtung neue gebiete eroberte«. Die Arbeit an den Blumen des Bösen – George übertrug mehr als zwei Drittel der gut 150 Gedichte – wurde ihm »zur hohen Schule für seinen eigenen Stil«. 34 Programmatisch stellte er »Segen« an den Anfang: »Wenn nach den allerhöchsten urteilsprüchen / Der dichter auf die trübe erde steigt« und verkündete 1901 im Vorwort zur ersten öffentlichen Ausgabe selbstbewusst, er habe »weniger eine getreue nachbildung als ein
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