Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
ami« mit, dass er plane, Anfang April nach Paris zu fahren. 2 Auch in Paris kannte Dr. Lenz eine Pension: das Hôtel des Américains in der rue de l’Abbé de l’Epée, eine Familienpension mit kleinem Garten zwischen rue Saint-Jacques und Boulevard Saint Michel, in der sich gern junge Schriftsteller einquartierten. 3 Mit einem von ihnen, dem Dichter Albert Saint-Paul aus Toulouse, stand Dr. Lenz im Briefwechsel.
Für die Sondernummer der Revue d’Allemagne zu Georges 60. Geburtstag hat Saint-Paul höchst eindrückliche Erinnerungen aufgezeichnet. 4 Dem liebenswürdigen, stets gutgelaunten Dr. Lenz – »er trug seinen lenzhaften Namen mit Recht« – habe es nie an Gesprächsstoff gemangelt. Sein junger Begleiter, von dem es hieß, er sei Student der Philologie, sei dagegen »nichts weniger als mitteilsam, vielleicht schüchtern« gewesen. Auf ihren gemeinsamen Spaziergängen
durch die Stadt habe er jedenfalls kaum etwas gesagt. Erst wenn die Rede auf die jüngsten literarischen Bestrebungen in der Hauptstadt kam, sei er hellhörig geworden. Da habe er, Saint-Paul, allmählich begriffen, »dass ich einen Dichter vor mir hatte. Herr Lenz, der ihn doch besser kannte, schien auch nichts davon zu ahnen.« 5
Mit dem Baedeker in der Hand schritt Dr. Gustav Lenz voran. Am meisten begeisterte er sich für den zum 100. Jahrestag der Französischen Revolution, rechtzeitig zur Weltausstellung vollendeten Eiffelturm, der in diesem Jahr als die Sensation der Hauptstadt galt. Als die Ferien zu Ende gingen, musste Dr. Lenz zurück nach Darmstadt, während sein ehemaliger Schüler sich in die französische Literatur vertiefen konnte. Der sieben Jahre ältere Saint-Paul erteilte bereitwillig Auskunft und gab dem neuen Freund Einführungskurse. Jeden Morgen las er ihm, vermutlich im kleinen Garten der Pension, »einige Stunden aus den Werken des französischen Schrifttums« vor. 6 Er lieh ihm die Fleurs du mal von Baudelaire und die Sagesse von Verlaine, machte ihn mit vielen seiner Dichterkollegen bekannt und erwirkte zuletzt mit Unterstützung Albert Mockels die Erlaubnis Mallarmés, ihn zu den berühmten Dienstagabenden in der rue de Rome mitzubringen. Bereits im November 1889 unterzeichnete George einen Brief an Saint-Paul mit »un de ces mardis« – einer von den Dienstagabenden. 7
Saint-Paul hat die Ereignisse, die fast vierzig Jahre zurücklagen, in seiner Erinnerung bewusst oder unbewusst komprimiert. Es scheint sinnvoll, das Paris-Erlebnis nicht in einzelne Abschnitte zu zerlegen, sondern den ersten großen und die anschließenden etwas kürzeren Aufenthalte der Jahre 1890 bis 1892 als Einheit zu betrachten. 1893 und 1894 war George nicht, 1895 nur für einen Zwischenstopp in Paris. Die Paris-Reisen 1896 und 1897 hatten nur indirekt mit den Franzosen zu tun; danach sind lediglich noch zwei Abstecher mit Melchior Lechter und eine letzte kurze Reise 1908 zu verzeichnen.
Im Anschluss an einen Besuch des Louvre entstand 1890 das Gedicht »Ein Angelico«. Saint-Paul erinnerte sich, dass George vom Saal der frühitalienischen Meister besonders fasziniert war, der »damals
für ihn allen Reichtum des Louvre in sich begriff«. In den folgenden Tagen habe George das Gespräch wiederholt auf die Kunst der Frührenaissance gelenkt und eines Abends dann ein Gedicht auf Fra Angelico vorgelesen, dessen Abschrift er Saint-Paul anschließend mit einer Widmung überreichte. In der zweiten Strophe dieses Gedichts werden die Grundfarben des Fra Angelico vorgestellt: gold, gelb, rosa und hellblau. George beschreibt jedoch nicht ihre Wirkung auf den Betrachter, sondern versetzt sich in den Künstler, dessen einziges Interesse darauf gerichtet ist, wie sich solche Farben gewinnen lassen. Obwohl ihr Material verschieden ist und Jahrhunderte sie trennen, gilt für den Dichter und den Maler in gleicher Weise, dass die Herstellung des Schönen den richtigen Umgang mit dem Material voraussetzt:
Er nahm das gold von heiligen pokalen,
Zu hellem haar das reife weizenstroh,
Das rosa kindern die mit schiefer malen,
Der wäscherin am bach den indigo. 8
Die Dichte dieser Zeilen mit ihren raffinierten Verschränkungen und dem exotisch klingenden Indigo als Schlusspointe erhellt mit einem Schlag, was George meinte, als er im Oktober 1892 in der Einleitung zu seiner Zeitschrift »die GEISTIGE KUNST auf grund der neuen fühlweise und mache« proklamierte. Die Kunst heiligt die Materie und gibt der Natur erst ihren Sinn – so deutete Claude David die
Weitere Kostenlose Bücher