Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
we have never had a more quiet and in every respect more gentlemanly behaved boarder than you.« Schon Anna Raab, die Patronin des Darmstäder Pensionats, hatte wenige Tage nach seiner Reifeprüfung bedauert, »eine so aufrichtige Seele verloren zu haben«. 66 Im Verhältnis zu seinen Vermieterinnen habe er immer Wert auf Distinktion gelegt, erzählte George später. In Wien hätten sie denken können, »ich
sei ein wohlhabender junger Herr, dem es gut gehe. Aber sie sahen mir an, dass ich was im Kopfe hatte und dass ich es nicht leicht hatte und waren sehr zuvorkommend.« 67 Frau Ebermann, von Oktober 1889 an seine erste Wirtin in Berlin, war so angetan von ihm, dass sie sogar bei der Versendung der ersten Hefte der Blätter für die Kunst mit anpackte.
Zu seinem 20. Geburtstag am 12. Juli 1888 schenkte Mrs. Mess ihrem Kostgänger eine sechsbändige Dickens-Ausgabe, »wishing him many happy returns of the day«. David Copperfield wurde »eines der Lieblingsbücher seiner Jugendjahre, aus dem er auch später noch gern ausführlich und genau zitierte«. Überhaupt las George jetzt viel englische Literatur, vor allem Romane des frühen 19. Jahrhunderts, darunter mit großer Begeisterung Edward Bulwer-Lyttons Rienzi . The Last of the Tribunes von 1835, das Richard Wagner als Vorlage seiner ersten großen Oper gedient hatte. 68 Cola di Rienzi, der im Mai 1347 mit seinen Anhängern das Kapitol stürmte, sich an die Spitze der Stadt setzte und einen neuen Volksstaat ausrief, der den Glanz der römischen Republik zurückbringen sollte, beflügelte nicht nur die revolutionären Phantasien des jungen George. »Dieser Sohn eines kleinen Gastwirts hat mit vierundzwanzig Jahren das römische Volk dazu gebracht, den korrupten Senat zu vertreiben, indem er die großartige Vergangenheit des Imperiums beschwor«, dozierte Adolf Hitler 1938 vor Paladinen. »Bei dieser gottbegnadeten Musik hatte ich als junger Mensch im Linzer Theater die Eingebung, dass es auch mir gelingen müsse, das deutsche Reich zu einen und groß zu machen.« 69 Durch Rienzi sei er zum ersten Mal von dem Gedanken erfasst worden, »es müsse alles in die Luft gesprengt werden«. – »Ich hätte eine Bombe geworfen, wenn man mich hier festgehalten hätte«, so Stefan George in einer seiner Selbststilisierungen. 70 »Hätte ich, zwanzigjährig, 20 000 Soldaten gehabt, so hätte ich alle Potentaten Europas verjagt.« 71 Jeder träumte in diesen Jahren auf seine Weise von der Revolution.
Was Wagner anging, wirkten die Aufführungen am Darmstädter Theater, die George als Schüler besucht hatte, noch einige Zeit nach. 72
Im Dezember 1892 wurde er in den Blättern für die Kunst unter den wenigen künstlerischen Vorbildern der jüngsten Vergangenheit genannt. Erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre erfolgte die radikale Abkehr von allem, was mit Wagner zu tun hatte. 73 Fortan machte George einen Bogen um Bayreuth. Wagner habe »nur der großen Wirkung halber das Kultische auf die Bühne geschleppt«, und das sei »das schlimmste Gift«. 74 Zwar rangiere er als schaffender Künstler weit vor Nietzsche, aber es finde sich bei ihm eben auch viel Kitsch. In späteren Jahren zeigte George »für diesen schlechten Mimen und seinen Walhall-Schwindel« keinerlei Verständnis mehr. 75 Die Gründe dafür, dass Wagner George und den Seinen immer »ein etwas fataler Gegenstand« gewesen sei, mutmaßte Theodor Heuss 1913, hätten »vielleicht auch im geheimen Gefühl der peinlichen Parallelen« gelegen. 76 Je vehementer George sich absetzte, desto mehr provozierte er den Vergleich.
3
Paris – Berlin
»Welcher Stern über seinem Leben hat ihn, als er zum ersten Mal Paris betrat, mitten ins Quartier Latin an die Gärten des Luxembourg geführt und dort am ersten Tage Albert Saint-Paul finden lassen!« 1 In der George-Erinnerungsliteratur wimmelt es nur so von Wundern, aber je enthusiastischer ein Ereignis gefeiert wird, als desto banaler erweisen sich bei näherer Betrachtung die Anlässe. Der Stern hieß Lenz und war jener Französischlehrer, der schon beim Wechsel von Bingen nach Darmstadt die Hand über George gehalten hatte. Er reiste gern, kannte sich in den französischsprachigen Ländern gut aus und blieb auch nach dem Abitur in Verbindung mit seinem »Besten«. Auf seine Empfehlung hatte George sich in der Pension in Montreux eingemietet, wo er, im direkten Anschluss an London, den Winter 1888/89 verbrachte. Am 20. Februar 1889 teilte Dr. Lenz seinem »cher
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