Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Gewissheit, eine wundersame Steigerung des Daseins durch Poesie erlebt zu haben.
Dichtung selbst wurde an diesen Abenden nur in kleinen Dosen gereicht, gleichsam als Oblate. Der Meister kam gern ins Plaudern – über eine Zeitungsnotiz, eine Ausstellung, ein Konzert, irgendetwas, was er als Stichwort reizvoll genug fand. Die Runde folgte gebannt seinen verschlungenen Improvisationen, aus deren unerwarteten Wendungen doch stets die Klarheit des Gedankens hervorleuchtete. Mit der für ihn typischen Aufwärtsbewegung der offenen Hand oder dem legendären »nicht wahr?« am Ende eines Satzes, den er besonders betonen wollte, ließ er das Gesagte dann durch den Raum
schwingen, als stehe es ernsthaft zur Diskussion. Nur einige der Älteren wagten es hin und wieder, in seine Ausführungen einzugreifen. In Ausnahmefällen durften jüngere Dichter aus ihren neuesten Produktionen vorlesen. Mallarmé selbst las nichts vor. Einmal sei er nach dem Stand seiner Arbeit gefragt worden, erinnerte sich George. Da habe der Meister stumm auf einen Stapel unkorrigierter Schulhefte gewiesen. 25
Zuvorkommend, höflich, schlicht, im Umgang mit seinen Gästen fast familiär, von steter Gelassenheit oder, wie Anatole France formulierte, von einer »unbeugsamen Sanftmut« – das war die eine Seite: ein Dichter, der die Blumen liebte und in den Gazetten über Damenmode schrieb, »einer der sehr wenigen Dichter, welche die Kunst des Alterns verstanden«. 26 Ein Dichter, der das Erlesene suchte um jeden Preis, der sich auf die große Gebärde verstand und das Wort zelebrierte – das war der andere Mallarmé, der Hohepriester der Kunst, der vollendete Repräsentant des l’art pour l’art . An manchen Abenden hätte man glauben können, so ein kritischer Teilnehmer der Dienstagabende, in einer jener Hinterhofkirchen zu sitzen, wo den Adepten »das Manna einer neuen Religion« gereicht werde. 27 Die meisten aber wollten sich der eigentümlichen Wirkung dieses Mannes gar nicht entziehen, im Gegenteil: Brachen die ersten Gäste auf, warteten auf der Treppe meist schon die nächsten auf Einlass. Seit Ende der achtziger Jahre eilte Mallarmé durch halb Europa ein geradezu mythischer Ruhm voraus. »Ich empfand lebhaft das seltene Gefühl, vor dem wirklich Bedeutenden zu stehen«, schrieb Houston Stewart Chamberlain im Januar 1893. »Das Auge, die Stimme, die Bewegungen – bei absoluter Einfachheit und Herzlichkeit etwas Königliches; auf einem anderen Planet … hätte dieser Mann zu den ganz Großen gehören können. So aber liegt auf seinem Antlitz ein Ehrfurcht gebietender Stolz der Entsagung.« 28
Auch bei George hinterließen die Zusammenkünfte in der rue de Rome einen nachhaltigen Eindruck. Zum ersten Mal trat ihm hier ein wirklicher Dichter entgegen, einer, der die Forderung nach der reinen, zweckfreien Poesie zur Lebensmaxime erhoben hatte und sich in
allem an diesem Ideal orientierte. George soll kaum etwas gesagt, dafür aber umso genauer beobachtet haben. Wie ein Dichter auftritt, redet, sich bewegt, wie er fast unmerklich Distanz herstellt und wie er, nicht zuletzt, sich vom allgemeinen Literaturbetrieb abgrenzt – alle diese Strategien waren von Mallarmé in jahrelanger Übung entwickelt worden. Perfektioniert hatte er vor allem die Stilisierung des Dichters als eines großen Leidenden. Da die Diskrepanz zwischen Ideal und Ausführung nur Annäherungswerte zulasse, müsse jeder Künstler unter den Unzulänglichkeiten des von ihm Geschaffenen leiden, so das Credo der Anhänger des l’art pour l’art . Konsequenterweise galt als der reinste Dichter derjenige, der Leid und Entsagung am nachdrücklichsten zu inszenieren verstand. Das war im Paris um 1890 »für sein denkbild blutend: MALLARMÉ«. 29
Die Vorstellung des einsam um sein Werk ringenden, an der Kunst wie am Leben gleichermaßen leidenden Dichters übte auf George eine starke Anziehungskraft aus. Und doch sah er weder in Mallarmé noch in einem der anderen Dichter ein Idol, keiner von ihnen wurde ihm zum schwärmerisch verehrten Vorbild, keinen suchte er nachzuahmen. Der Zug ins Gewollte, die theatralische Leidensfähigkeit, das Pathos, die Pose: Vieles von dem, was er in der rue de Rome kennenlernte, hat George übernommen – um sich zugleich davon zu emanzipieren. Der Dichter, der später zum »Meister« wurde, hat seinen eigenen Meister nie gefunden.
Obwohl der 21-Jährige, als er zu den Dienstagabenden zugelassen wurde, noch keine Zeile publiziert hatte, war er
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