Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
stimme ihn düster und beklommen. Zu Georges Brief, »der bei aller Strenge mir in jeder Zeile nicht anders als wohlthuend war«, äußerte sich Hofmannsthal nur in einer Randbemerkung. Er bitte George aber anzuerkennen, dass »ich mich Ihnen in einer so schlimmen Zeit nicht verschließe und die mir seltene Offenheit finde, vor Ihnen zu klagen«. 59
Georges Antwort kam postwendend. Hofmannsthal hatte ihm seine Angst vor dem Verstummen auf beklemmende Weise geschildert und ihn damit über alles Erwarten ins Vertrauen gezogen. Wenn sein Gegenüber den ersten Schritt tat, war George schnell bereit, sich seinerseits zu öffnen. Er schlug dann sofort einen völlig anderen Ton an, einen Ton, den er sich Hofmannsthal gegenüber seit Jahren versagt hatte: mild, geradezu rührend besorgt, mitfühlend:
ich sende Ihnen schnell diese zeilen weil ich von mir weiss dass es in zeiten grösster verstimmung oft nur eines geringen anstosses bedarf um die lastenden wolken zu scheuchen. Da Sie mir durch die vor mir liegenden Blätter den ersten tieferen einblick in Ihre zustände gewährten so wage ich noch nicht heilsame worte zuzuflüstern … ich glaube dass kaum eines der drückenden gespenster worunter Sie dulden mich verschont hat. in meiner jugend war ich stark genug um auch das widrigste zu besiegen und ohne hilfe – später aber wär ich gewiss zusammengebrochen hätt ich mich nicht durch den Ring gebunden gefühlt. das ist eine meiner lezten weisheiten – das ist eins der geheimnisse! Woran Sie am schmerzlichsten leiden ist eine gewisse wurzellosigkeit … 60
Es blieb bei einem sommerlichen Intermezzo. Die Annäherung endete, wie ihre gegenseitigen Werbungsversuche immer geendet hatten: im Unbestimmten. Hofmannsthal fing sich wieder und fand zu seiner alten Produktivität zurück, George hakte noch einmal nach, dann schmollte er. Ende des Jahres sah sich Hofmannsthal zum weiteren Mal genötigt, vor George Rechenschaft abzulegen.
Das Prosastück, in dem Hofmannsthals Krise vom Sommer 1902 ihren Niederschlag fand, der sogenannte Chandos-Brief, zählt zu den Gründungsdokumenten der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. »Es ist gütig von Ihnen, mein hochverehrter Freund, mein zweijähriges Stillschweigen zu übersehen und so an mich zu schreiben. Es ist mehr als gütig, Ihrer Besorgnis um mich, Ihrer Befremdung über die geistige Starrnis, in der ich Ihnen zu versinken scheine, den Ausdruck der Leichtigkeit und des Scherzes zu geben.« So beginnt der fiktive Brief, den Philipp Lord Chandos am 22. August 1603 an Francis Bacon schreibt. Der Adressat ist nicht schwer zu identifizieren. Wenn Chandos ein paar Sätze weiter an die »verschiedenen kleinen Pläne« erinnert, »mit denen ich mich in den gemeinsamen Tagen schöner Begeisterung trug«, greift er wörtlich Georges gedruckte Widmung der Pilgerfahrten auf: »Dem Dichter Hugo von Hofmannsthal im Gedenken an die Tage schöner Begeisterung«. 61 Es war Hofmannsthal wichtig, dass George den Brief zur Kenntnis nahm. Zwei Monate nach seiner Publikation in einer Berliner Tageszeitung schickte er ihm, was er nie getan hatte, im Dezember 1902 eine Maschinenabschrift.
Der Chandos-Brief ist die Bankrotterklärung einer Kunst, die auf permanente Ästhetisierung zielt. »Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen … Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte ›Geist‹, ›Seele‹ oder ›Körper‹ nur auszusprechen.« Der drohende Realitätsverlust, eingeleitet durch den Zerfall bestehender Ordnungen und Werte, wird, im Vorgriff auf Wittgenstein, erstmals als ein Problem der Sprache begriffen: »Die abstrakten Worte … zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.« Der
Dichter, unfähig, die Dinge zu benennen, weil sie ihm nichts mehr sagen, ist von der Welt isoliert, er verfällt der Schizophrenie. Der Verlust der Identität breitet sich unaufhaltsam aus – »wie ein um sich fressender Rost«. 62
George glaubte die Ursachen des Konfliktes in Hofmannsthals »Wurzellosigkeit« zu erkennen. Dem stellte er sein Ideal des »Rings« entgegen: Wer sich in einem Kreis von Gleichgesinnten bewege, drohe nicht so schnell die Orientierung zu verlieren. Hofmannsthal bezweifelte, dass in diesem »Ring«, wenn es ihn denn tatsächlich gab, eine Antwort auf die von ihm gestellten Fragen zu finden war. »Das Geheimnis des Ringes, das Sie andeuten, vermochte ich vielleicht
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