Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
»Gespräch über Gedichte« nicht gern festlegen und zitierte lieber einzelne Strophen. »Ich bitte dich«, ließ er den von einem imaginären Gesprächspartner derart auf die Folter gespannten Clemens sagen, »lies ein Ganzes oder gar nichts.« Hofmannsthal wählte das Eröffnungsgedicht:
Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade
Der reinen wolken unverhofftes blau
Erhellt die weiher und die bunten pfade.
Dort nimm das tiefe gelb, das weiche grau
Von birken und von buchs, der wind ist lau,
Die späten rosen welkten noch nicht ganz,
Erlese küsse sie und flicht den kranz,
Vergiss auch diese lezten astern nicht,
Den purpur um die ranken wilder reben,
Und auch was übrig blieb von grünem leben
Verwinde leicht im herbstlichen gesicht. 2
Vor allem die Kühnheit der dritten Zeile »Der reinen wolken unverhofftes blau« machte auf Hofmannsthal großen Eindruck. Streng genommen erscheine das Blau zwischen den weißen Wolken. Wenn sich am Himmel einzelne helle Wolken klar umrissen abzeichneten, trete das Blau aber umso stärker hervor, und deshalb sei die Wendung »der reinen wolken unverhofftes blau«, wie Hofmannsthal mit der Nonchalance des Wiener Kaffeehauses meinte, »tadellos«. Das Gedicht atme den Herbst: »Es ist schön. Ja, es ist der Herbst.« Das tadellose Gedicht machte Furore. Fünfzig Jahre später zitierte es Gottfried Benn in seinem Vortrag »Probleme der Lyrik« – »eines der schönsten Herbst- und Gartengedichte unseres Zeitalters, drei Strophen zu vier Reihen, diese faszinieren kraft ihrer Form das Jahrhundert«. 3
Die Literaturwissenschaft hat den Erfolg des Jahrs der Seele vor allem darauf zurückgeführt, dass George mit diesem Band dem traditionellen Lyrikverständnis besonders nah gekommen sei. Erlebnisdichtung als Landschaftsdichtung, eingebettet in den Wechsel der Jahreszeiten, das war seit den Tagen der Frühromantik ein beliebtes Muster. Ungewöhnlich für den an der Dichtung des 19. Jahrhunderts geschulten Leser war allenfalls das Fehlen des Frühlings: George eröffnete den Jahreszeitenzyklus mit dem Herbst und ließ auf den Winter unmittelbar den Sieg des Sommers folgen. Der Mittelteil enthielt zwei Reihen biographisch erzählender Gedichte sowie zwölf mit Initialen gekennzeichnete Widmungsgedichte, deren Formen
ebenfalls an traditionelle Muster anknüpften. Zumal in dem abschließenden Zyklus des Bandes, den Traurigen Tänzen , in denen die betörende Melancholie der Herbstgedichte noch einmal ins Spröde und Düstere gesteigert wurde, erwies sich Das Jahr der Seele als dasjenige Buch Georges, »das am wenigsten die Vorstellung verletzt, die man allgemein von der Dichtung hat«. 4
Mit dem Hinweis, Das Jahr der Seele sei leichter zugänglich gewesen als die vorangegangenen Bände, lässt sich der Ende 1897 einsetzende Erfolg Georges allerdings nicht hinreichend erklären. Als entscheidend für den Durchbruch erwies sich eine Reihe glücklicher Zufälle im Herbst dieses Jahres. Wäre Das Jahr der Seele , wie von George ursprünglich geplant, zwei Jahre früher erschienen, hätte es kaum besondere Aufmerksamkeit gefunden. Aber nicht nur der Zeitpunkt der Veröffentlichung begünstigte das Interesse. Auch der Ort, an dem die Ereignisse für George jetzt wie von selbst aufeinander zuliefen, trug zur Wende in der öffentlichen Wahrnehmung seiner Person wesentlich bei. Nur ein Erfolg in Berlin war ein wirklicher Erfolg. Acht Jahre hatte George versucht, wichtige Multiplikatoren der Hauptstadt für sich zu gewinnen. In den Salons von Charlottenburg wurde er für diese Beharrlichkeit jetzt belohnt.
In Berlin verbrachte George nicht nur mehr Tage seines erwachsenen Lebens als an jedem anderen Ort, in Berlin war er auch gemeldet. Vielleicht schon seit 1914, als das Binger Elternhaus vermietet wurde, spätestens seit 1919, als Bingen unter französische Besatzung fiel und er einen neuen Wohnsitz angeben musste, wurde George polizeilich unter der Adresse seines Verlegers Georg Bondi geführt: Herbertstraße 15, Berlin-Grunewald. 5 45 Jahre lang hielt er sich regelmäßig für mehrere Wochen in der Hauptstadt auf, mit Vorliebe in den Herbstmonaten, später auch über die Weihnachtstage hinaus. Verzeichnet sind über diesen Zeitraum rund zwei Dutzend Wohnadressen, die seine Karriere widerspiegeln. Von den einfachen Unterkünften in Berlin-NO und rund um die Friedrichstraße verabschiedete er sich um 1900, nahm dann weiter westlich in Charlottenburg
Weitere Kostenlose Bücher