Stefan Zweig - Gesammelte Werke
blutete und weinte, aber mein Vater zog mich ängstlich fort, als ich nach Hilfe schrie… Mehr weiß ich nicht von ihnen… Doch, ich weiß noch… Unsere Gassen waren dunkel und eng, wie die hier, wo ich wohne. Und nur Juden wohnten darin… Aber drüben die Stadt war schön. Ich habe sie einmal hoch von einem Hause gesehn… Ein Fluß war darin, der so blau und klar vorüberfloß und drüben eine breite Brücke, auf der Menschen in hellen Gewandungen gingen, wie ihr mir sie auf den Bildern gezeigt habt. Und die Häuser waren mit künstlichen Figuren geschmückt und mit Gold und Giebeln verziert. Dazwischen standen hohe, ach, so hohe Türme, in denen die Glocken sangen, und die Sonne kam herab bis in die Straßen. Es war alles so schön… Als ich aber meinem Vater sagte, er möge hinübergehn mit mir in die helle Stadt, da wurde er ernst und sagte: ›Nein, Esther, die Christen würden uns töten‹… Ich erschrak bei dem Wort… Und seitdem haßte ich die Christen…«
Sie hielt inne in ihren Träumen, denn es ward wieder alles licht in ihr. Was sie längst vergessen hatte, was verstaubt und verschleiert in ihrer Seele gelegen, funkelte wieder auf. Sie ging wieder die dunklen Ghettogassen entlang bis zu dem Hause. Und mit einem Male waren Zusammenhänge da, alles wurde so klar, und sie erfaßte, daß was sie manchmal für einen Traum hielt, Wirklichkeit und vergangenes Leben war. Mühsam hasteten die Worte den klaren vorübereilenden Bildern nach.
»Und damals dieser Abend… Plötzlich riß man mich aus dem Bett… ich erkannte meinen Großvater, der mich in den Armen hielt, mit bleichem zitternden Gesicht… das ganze Haus brauste und zitterte, die Luft war voll Schreien und Lärmen… Aber jetzt dämmert es mir auf, ich höre wieder, was sie schrieen: die Fremden, die Christen… Mein Vater schrie es oder meine Mutter… Ich weiß nicht mehr… Mein Großvater trug mich hinab in die Dunkelheit durch schwarze Gassen und Straßen… Und immer das Lärmen und derselbe Schrei: die Fremden, die Christen… Wie hab’ ich das vergessen können!?… Und dann ein Mann, mit dem wir gehen… Ich weiß nicht mehr, ich glaube, ich schlief… Als ich erwachte, waren wir tief im Land, mein Großvater und der Mann, bei dem ich lebe… Die Stadt sah ich nicht mehr, aber der Himmel war sehr rot, dort, von wo wir gekommen… Und wir reisten weiter…«
Wieder hielt sie inne. Die Bilder schienen sich zu verlieren, langsamer dunkler zu werden.
»Ich hatte drei Schwestern… Sie waren sehr schön, und jeden Abend kamen sie an mein Bett und küßten mich… Und mein Vater war groß, ich reichte nicht hinauf zu ihm, und so trug er mich oft in seinen Armen… Und meine Mutter… Ich habe sie nie mehr gesehen… Ich weiß nicht, was mit ihnen ist, denn mein Großvater sah weg, wenn ich ihn fragte und schwieg… Und als er starb, wagte ich niemanden zu fragen…«
Und wieder hielt sie inne. Ein Schluchzen brach aus ihrer Kehle mit weher Gewalt. Ganz leise fügte sie bei:
»Jetzt weiß ich alles… Wie konnte das alles so dunkel sein für mich? Mir ist, als stände mein Vater neben mir und spräche das Wort, das er damals mir zur Antwort gesagt – so deutlich klingt es in meinen Ohren… Nun frage ich niemanden mehr…«
Ihre Worte wurden Schluchzen, stummes trostloses Weinen, das in ein tiefes trauriges Schweigen verklang. Das Leben, dessen helles Bild sie noch vor wenigen Minuten verführt, gähnte ihr nun wieder dumpf und dunkel entgegen. Und der alte Mann hatte längst Absicht und Ziel vergessen über der hingegebenen Betrachtung dieses Schmerzes. Stumm stand er vor ihr, und ihm war so weh, als müßte er sich zu ihr setzen, um mit ihr zu weinen, was er nicht in Worten sagen konnte: daß seine große Menschenliebe diesen Schmerz in ihr, den er unbewußt erweckt, fühlte als eine Schuld. Erschauernd spürte er die Fülle von Segen und lastender Schwere, die in einer Stunde sich die Hände reichten, und die schweren Wogen, die sich auf und nieder senkten, und von denen er nicht wußte, ob sie sein Leben erheben wollten oder in die drohenden Tiefen ziehen. Aber er fühlte sich matt und stumpf gegen Furcht wie Hoffnung; nur Mitleid für dieses junge Leben erfüllte ihn, vor dem noch so viel Wege und Ziele sich breiteten. Vergebens suchte er nach Worten: sie waren alle so schwer wie Blei und klangen wie falsches Metall. Was wog ihre Fülle gegen den Schmerz einer einzigen Erinnerung?
Traurig strich seine Hand über ihr
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