Stefan Zweig - Gesammelte Werke
pathetischen Anlaß, und seine Briefe verbreiten sich wenig über dieses unangenehme Ereignis. Längst ist diesem subtilen Genießer das militärische Gekatzbalge der Welt nicht mehr so wichtig wie zehn Takte Musik oder ein kluges Buch: das feine Beben des Herzens erschüttert ihn mehr als die Kanonade von Borodino, und er hat nur noch wenig Sinn für andere Historie als die seines eigenen Lebens. So fischt er sich aus dem Riesenbrand einen schön gebundenen Voltaire heraus und gedenkt ihn mitzunehmen: souvenir de Moscou. Aber diesmal tritt selbst den Etappenschwärmern der Krieg mit seinen Frostbeinen kräftig auf die Zehen. An der Beresina hat der Auditor Beyle noch Zeit (als der einzige Offizier in der Armee, der an derlei Dinge denkt), sich tadellos zu rasieren, dann aber eiligst über die einkrachende Brücke, sonst geht es an den Kragen. Das Tagebuch, die »Histoire de la peinture«, der schöne Voltaire, das Pferd und der Pelz und der Mantelsack bleiben den Kosaken. Nur mit zerrissenen Kleidern am Leib, schmutzig, gehetzt, die Haut von Kälte zerrissen, rettet er sich nach Preußen. Und sein erster Atemzug ist wieder die Oper: wie andere ins Bad, stürzt er sich gleich in Musik, um sich zu erfrischen. So wird für Henri Beyle der russische Feldzug, die Vernichtung der Großen Armee, nicht viel mehr als ein Intermezzo zwischen zwei Abenden, der »Clemenzia di Tito« in Königsberg bei der Rückkehr und dem »Matrimonio secreto« in Dresden, bei dem Auszug ins Feld.
1814 bis 1821, Mailand. Wiederum Zivil, Henri Beyle hat genug, endgültig genug vom Krieg. Eine Schlacht sieht von der Nähe aus wie die andere, man sieht in jeder dasselbe, »nämlich nichts«. Er hat genug von allen Aufgaben und Ämtern, von Vaterländern und Schlächtereien, von Papieren und Offizieren. Mag Napoleon in seiner »Courromanie« seiner wütigen Kriegskrankheit, noch einmal Frankreich erobern: gut, er tue so, aber ohne den Sukkurs fortan des Herrn Auditor Beyle, der nichts anderes mehr will als keinem befehlen und keinem gehorchen, der nichts begehrt als das Natürlichste und doch Allerschwerste: endlich, endlich sein eigenes Leben zu führen.
Schon vor drei Jahren, zwischen zweien der üblichen Napoleonskriege, zweitausend Franken in der Tasche, war er, selig und froh wie ein Kind, zum Urlaub hinabgesaust nach Italien: schon hat jenes Heimweh nach seiner eigenen Jugend begonnen, das den alternden Beyle bis zur letzten Stunde nie mehr verläßt – und seine Jugend heißt Italien: Italien und Angela Pietragrua, die er timid und scheu als kleiner Unteroffizier geliebt und an die er nun mit einmal unbezwinglich denken muß, seit die Kutsche die alten Pässe niederrollt. Abends kommt er an in Mailand. Rasch den Staub von Gesicht und Hand, andere Kleider über und hin in die Heimat des Herzens, in die Scala, Musik zu hören. Und wirklich, nach seinem eigenen Wort: »Musik erweckt die Liebe.«
Am nächsten Morgen schon eilt er zu ihr, läßt sich melden, sie erscheint, noch immer schön, begrüßt ihn höflich, aber fremd. Er stellt sich vor: Henri Beyle, der Name sagt ihr nichts. Nun beginnt er zu erinnern, an Joinville und die andern Kameraden. Endlich erhellt sich das geliebte, tausendmal geträumte Gesicht zu einem Lächeln. »Ah, ah, Ella è il cinese« (»Ach, Sie sind der Chineser«) – der verächtliche Spitzname ist alles, was Angela Pietragrua von ihrem romantischen Liebhaber noch weiß. Allerdings, nun ist Henri Beyle nicht siebzehn und kein Brackenburg mehr: kühn und gierig gesteht er seine Leidenschaft von damals und heute. Sie erstaunt: »Ja, warum haben Sie mir das nicht gesagt?« Sie hätte ihm doch gern die Kleinigkeit gewährt, die einer großmütigen Frau so wenig kostet, aber glücklicherweise bleibt dazu noch Zeit, und bald kann der Romantiker, elf Jahre zu spät freilich, in seine Hosenträger das Datum jenes Liebessiegs über Angela Pietragrua, 21. September, halb zwölf Uhr mittags, einsticken lassen.
Dann aber haben sie ihn noch einmal nach Paris zurückgetrommelt. Noch einmal, zum letztenmal, 1814, muß er für diesen kriegswütigen Korsen Provinzen verwalten, das Vaterland verteidigen, aber glücklicherweise – ja glücklicherweise, denn der schlechte Franzose Henri Beyle ist todfroh, daß die Kriegsführerei, und sei es auch mit einer Niederlage, glücklich ein Ende hat – rücken die drei Kaiser in Paris ein. Jetzt kann er endlich und endgültig nach Italien fahren, für immer frei von jedem Amt und
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