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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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dichterischen Existenz gefährlicher als Zufriedenheit und ebene Bahn. Tolstois Weltlauf kennt nur ein einziges Mal solche selbstvergessene Entspannung, dies Glück des Menschen, diese Gefahr des Künstlers. Nur einmal inmitten seiner Pilgerschaft zu sich selbst schenkt sich seine ungenügsame Seele Rast, sechzehn Jahre innerhalb eines dreiundachtzigjährigen Daseins; einzig die Zeit von seiner Vermählung bis zum Abschluß der beiden Romane »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina« lebt Tolstoi mit sich und seinem Werke in Frieden. Dreizehn Jahre (1865 bis 1878) verstummt auch das Tagebuch, dieser Büttel seines Gewissens, Tolstoi, der Glückliche, in sein Werk Verlorene, beobachtet nicht sich mehr, sondern einzig die Welt. Er fragt nicht, weil er zeugt, sieben Kinder und die zwei mächtigsten epischen Werke: damals und nur damals allein lebt Tolstoi wie alle andern Sorglosen im bürgerlich ehrenhaften Egoismus der Familie, glücklich, zufrieden, weil von der »schrecklichen Frage nach dem Warum« befreit. »Ich grüble nicht mehr über meine Lage (alles Grübeln ist vorbei) und wühle nicht mehr in meinen Empfindungen – in den Beziehungen zu meiner Familie fühle ich nur und reflektiere nicht. Dieser Zustand gewährt mir außerordentlich viel geistige Freiheit.« Die Selbstbeschäftigung hemmt nicht das innerlich strömende Gestalten, der unerbittliche Wachtposten vor dem moralischen Ich tritt schläfernd zurück und läßt dem Künstler freie Bewegung, vollsinnliches Spiel. Er wird berühmt in jenen Jahren, Leo Tolstoi, er vervierfacht sein Vermögen, er erzieht seine Kinder und weitet sein Haus, aber sich am Glück zu befriedigen, am Ruhm sich zu sättigen, an Reichtum sich zu mästen, ist diesem moralischen Genie auf die Dauer nicht erlaubt. Von jeder Gestaltung wird er immer zurückkehren zu seinem ureigentlichen Werke der vollkommenen Selbstgestaltung, und da kein Gott ihn aufruft in der Not, wird er selbst ihr entgegengehen. Da kein Außen ihm ein Schicksal schenkt, wird er sich von innen seine Tragik erschaffen. Denn immer will sich das Leben – und wie erst ein so gewaltiges! – in der Schwebe halten. Setzt weltseitig der Zustrom des Schicksals aus, so höhlt von innen der Geist sich neue springende Quelle, damit der Kreislauf des Daseins nicht versiege. Was Tolstoi in der Nähe des fünfzigsten Jahres erfährt, seinen Zeitgenossen zu unerklärbarer Überraschung, nämlich seine plötzliche Abkehr von der Kunst, seine Hinwendung auf das Religiöse, dieses Phänomen betrachte man durchaus nicht als außerordentliches – vergebens sucht man nach einer Anormalität in der Entwicklung dieses allergesündesten Menschen – außerordentlich entäußert sich daran nur, wie immer bei Tolstoi, die Vehemenz der Empfindung. Denn die Umschaltung, die Tolstoi im fünfzigsten Jahre seines Lebens vornimmt, veranschaulicht nichts anderes als einen Vorgang, der dank geringerer Plastizität bei den meisten Männern unsichtbar bleibt: die unvermeidliche Anpassung des leibgeistigen Organismus an das nahende Alter, das Klimakterium des Künstlers .
    »Das Leben blieb stehen und wurde unheimlich«, so formuliert er selbst den Anfang seiner Seelenkrise. Der Fünfzigjährige hat jenen kritischen Punkt erreicht, wo die produktive Formkraft des Plasmas nachzulassen beginnt und die Seele droht, in Erstarrung überzugehen. Nicht mehr so bildnerisch drängen die Sinne, die Farbkraft der Eindrücke verblaßt wie jene des eigenen Haares, jene zweite Epoche beginnt, die gleichfalls uns von Goethe vertraute, da das warme Sinnenspiel sich zur Kelter der Begriffe sublimiert, Gegenstand zur Erscheinung, Bildnis zum Symbol wird. Wie jede profunde Verwandlung des Geistes leitet auch hier zunächst ein leises Unbehagen des Leibes solche Umgeburt ein. Eine geistige Kälteangst, eine entsetzliche Verarmungsfurcht schauert jählings über die beunruhigte Seele, und der feinnervige Seismograph des Körpers verzeichnet sofort herannahende Erschütterung (die mystischen Krankheiten Goethes bei jeder Verwandlung!). Aber – und hier betreten wir kaum durchlichtetes Gebiet – indes die Seele diesen Angriff vom Dunkel her noch nicht zu deuten weiß, hat im Organismus schon selbsttätig die Gegenwehr begonnen, eine Umstellung im Psycho-Physischen, ohne Wissen, ohne Willen des Menschen, aus der undurchdringlichen Vorsorge der Natur. Denn genau wie den Tieren noch lange vor dem Kälteeinbruch plötzlich ein warmes Winterhaar um den Leib sich legt,

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