Stefan Zweig - Gesammelte Werke
so wächst auch der menschlichen Seele im Zeitpunkt des ersten Altersüberganges, kaum daß der Zenit überschritten, ein neues geistiges Schutzkleid, eine dichte, defensive Deckhülle. Diese profunde Umstellung vom Sinnlichen ins Geistige, ausgehend vielleicht vom Zellwerk der Drüsen und hinvibrierend bis in die letzten Schwingungen schöpferischer Produktion, diese klimakterische Epoche formt sich als seelische Erschütterung genauso blutbedingt und krisenhaft wie die Pubertät selbst aus, wenn auch – heran, ihr Psychoanalytiker und Psychologen! – kaum in den körperlichen Grundspuren erlauscht, geschweige denn in den geistigen beobachtet. Bei den Frauen bestenfalls, wo das Phänomen der Geschlechtsrückbildung gröber und klinischer in beinahe greifbaren Formen zutage tritt, mögen einzelne Beobachtungen gesammelt sein; vollkommen unerforscht dagegen harrt noch die mehr geistige der männlichen Umschaltung und ihre seelischen Konsequenzen der psychologischen Durchlichtung. Denn das Mannesklimakterium ist fast einhellig die Lieblingszeit der großen Konversionen, der religiösen, der dichterischen und verstandesmäßigen Sublimierungen, Schutzkleid sie alle um das schwächer durchblutete Sein, geistiger Ersatz für verminderte Sinnlichkeit, verstärktes Weltgefühl für abklingendes Selbstgefühl, verebbende Lebenspotenz. Vollkommen komplementär der Pubertät, gleich lebensgefährlich bei den Gefährdeten, gleich vehement bei den Vehementen, gleich produktiv bei den Produktiven, leitet solcherart das Mannesklimakterium eine andersfarbige schöpferische Seelenepoche ein, einen neuen geistigen Johannestrieb zwischen Aufstieg und Niederstieg. Bei jedem bedeutenden Künstler begegnen wir diesem unausweichlichen Krisenaugenblick, bei keinem freilich mit solch erdaufwühlender, vulkanischer und beinahe vernichtender Impetuosität wie bei Tolstoi. Vom realen Raum aus betrachtet, von bequemer Objektivität her, geschieht ja Tolstoi in seinem fünfzigsten Jahr eigentlich nichts anderes als das Altersgemäße: eben, daß er sich altern fühlt. Das ist alles, sein ganzes Erlebnis. Ein paar Zähne fallen aus, das Gedächtnis dunkelt ab, manchmal schatten Mattigkeiten in die Gedanken: alltägliches Phänomen eines Fünfzigjährigen. Aber Tolstoi, dieser Vollmensch, diese nur im Strömen und Überströmen erfüllte Natur fühlt sich bei dem ersten Anhauch von Herbstlichkeit sofort schon welk und todesreif. Er vermeint, »nicht mehr leben zu können, wenn man nicht trunken ist vom Leben«; eine neurasthenische Depression, eine ratlose Verstörung überkommt den übergesunden Mann. Er kann nicht schreiben, er kann nicht denken – »Ich schlafe geistig und kann nicht aufwachen, mir ist nicht wohl, ich bin mutlos« –; wie eine Kette schleppt er »die langweilige und platte Anna Karenina« zu Ende, sein Haar färbt sich plötzlich grau, Falten zerschneiden die Stirn, der Magen revoltiert, die Gelenke werden schwach. Stumpf brütet er vor sich hin und sagt, »daß ihn nichts mehr freue, daß vom Leben nichts mehr zu erwarten sei, daß er bald sterben werde«, er »strebt mit allen Kräften fort vom Leben«, und knapp hintereinander verzeichnet das Tagebuch die zwei schneidenden Eintragungen »Todesfurcht« und dann wenige Tage später »Il faudra mourir seul«. Tod aber – ich habe es in der Darstellung seiner Vitalität auszuführen versucht – bedeutet diesem Lebensriesen den schrecklichsten aller Schreckgedanken, darum schauert er sofort zusammen, sobald nur ein paar Nähte seines ungeheuren Bündels Kraft sich zu lockern scheinen.
Allerdings, der geniale Selbstdiagnostiker irrt nicht vollkommen, wenn er mit den Nüstern Verhängnis wittert, denn tatsächlich, etwas von dem ursprünglichen Tolstoi stirbt endgültig ab in dieser Krise. Bisher hatte Tolstoi niemals die Welt nach ihrem metaphysischen Sinn gefragt, er hat sie nur betrachtet wie der Künstler sein Modell; folgsam hatte sie sich ihm gegenübergestellt, wenn er ihr Bildnis zeichnete, und sich streicheln lassen und fassen von seinen schöpferischen Händen. Plötzlich ist diese naive Freude, dieses rein bildnerische Anschauen ihm unmöglich. Die Dinge geben sich ihm nicht mehr ganz, er spürt, sie verstecken etwas vor ihm, ein Hintersich, irgendeine Frage; zum erstenmal empfindet dieser klarstsehende Mensch das Sein als ein Geheimnis, er ahnt einen Sinn, den er nicht fassen kann mit den bloß äußern Sinnen – zum erstenmal versteht Tolstoi, daß, dies
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