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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Hintergründige zu begreifen, ein neues Instrument ihm not tue, ein wissenderes, ein bewußteres Auge, ein Denkauge. Beispiele mögen diese innere Umwandlung sinnfälliger erläutern. Hundertmal hat Tolstoi im Kriege Menschen sterben sehen und ohne Frage nach Recht und Unrecht ihr Verbluten geschildert als Maler, als Dichter, als spiegelnde Pupille bloß, als formenempfindliche Netzhaut. Jetzt sieht er in Frankreich den Kopf eines Verbrechers von der Guillotine niederpoltern, und sofort empört eine sittliche Macht in ihm sich gegen die ganze Menschheit. Tausendemal ist er, der Herr, der Barin, der Graf, an seinen Dorfbauern vorbeigeritten und hat gleichgültig, indes sein Pferd im Galopp ihnen die Röcke überstaubte, demütig-sklavischen Gruß als ein Selbstverständliches hingenommen. Jetzt bemerkt er zum erstenmal ihre Barfüßigkeit, ihre Armut, ihr verschrecktes rechtloses Dasein und wirft sich zum erstenmal die Frage in die Brust, ob er selbst ein Recht habe, angesichts ihrer Notdurft und Mühe sorglos zu bleiben. Unzähligemal sauste sein Schlitten in Moskau Scharen frierender Bettler entlang, ohne daß er den Kopf oder die geringste Aufmerksamkeit ihnen zuwendete; Armut, Elend, Unterdrückung, Militär, Gefängnisse, Sibirien waren ihm so natürliche Fakta gewesen wie Schnee im Winter und Wasser im Faß; jetzt plötzlich, bei einer Volkszählung, erkennt der Erweckte die furchtbare Lage des Proletariats als eine Anklage gegen seinen Überfluß. Seit er Menschliches nicht mehr als bloßes Material empfindet, das man »zu studieren und zu beobachten« hat, stürzt die ruhige, malerische Ordnung des Daseins über seiner Seele zusammen; er kann nicht mehr kaltbildnerisch ins Leben schauen, sondern muß unablässig fragen nach Sinn und Widersinn, er fühlt alles Humane nicht mehr von sich aus, egozentrisch oder introvertiert, sondern sozial, brüderlich, extrovertiert: das Bewußtsein der Gemeinschaft mit jedem und allem hat ihn »befallen« wie eine Krankheit. »Man muß nicht denken – es ist zu schmerzhaft«, stöhnt er auf. Aber seit einmal dieses Auge des Gewissens aufgebrochen, wird ihm das Leiden der Menschheit, die Urqual der Welt von jetzt ab unabänderlich alleigenste Angelegenheit. Gerade aus dem mystischen Schrecken vor dem Nichts erhebt sich ein neuer schöpferischer Schauer vor dem All, erst aus seiner vollkommenen Selbstaufgebung erwächst dem Künstler die Aufgabe, noch einmal und nun in moralischen Maßen seine Welt zu erbauen. Wo er Tod vermeint, waltet das Wunder der Wiedergeburt: jener Tolstoi ist erstanden, den nicht nur als Künstler, sondern als menschlichsten der Menschen eine Menschheit verehrt.
    Aber damals, unmittelbar in der schmetternden Stunde des Zusammenbruchs, in jenem ungewissen Augenblick vor dem »Erwachen« (wie Tolstoi später, getröstet, seinen beunruhigenden Zustand nennt), ahnt der Überraschte in der Verwandlung noch nicht den Übergang. Ehe dies andere neue Auge des Gewissens in ihm aufbricht, fühlt er sich völlig blind, nur Chaos rundum und weglose Nacht. »Wozu denn leben, wenn das Leben so furchtbar ist?« fragt er die ewige Frage des Ekklesiastes. Wozu sich mühen, wenn man doch nur ackert für den Tod? Wie ein Verzweifelter tastet er im verfinsterten Weltgewölbe die Wände ab, um irgendwo einen Ausgang zu finden, eine Selbstrettung, einen Funken Licht, einen Sternglanz Hoffnung. Und erst, wie er sieht, daß niemand von außen ihm Hilfe und Erleuchtung bringt, gräbt er sich selbst einen Minengang, planhaft und systematisch, Stufe um Stufe. 1879 schreibt er die folgenden »unbekannten Fragen« auf ein Blatt Papier:
    a) Wozu leben?
b) Welche Ursache hat meine Existenz und die jedes anderen?
c) Welchen Zweck hat mein Dasein und jedes andere?
d) Was bedeutet jene Spaltung in Gut und Böse, welche ich in mir fühle, und wozu ist sie da?
e) Wie soll ich leben?
f) Was ist der Tod – wie kann ich mich retten?
    »Wie kann ich mich retten? Wie soll ich leben?« das ist Tolstois furchtbarer Schrei, von der Kralle der Krise ihm heiß aus dem Herzen gerissen. Und dieser Schrei gellt nun durch dreißig Jahre, bis die Lippen versagen. Die gute Botschaft, die von den Sinnen kam, er glaubt sie nicht mehr, die Kunst gibt keinen Trost, die heiße Trunkenheit der Jugend ist grausam ernüchtert, von allen Seiten strömt Kälte heran. Wie kann ich mich retten? Immer gieriger wird dieser Schrei, denn es kann doch nicht sein, daß dieses scheinbar Sinnlose nicht doch einen Sinn

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