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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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(heute kaum mehr faßlichen) Irrsinn des ersten Kriegsjahres, die geistige Epidemie ganz Europas, das intellektuelle Narrenhaus sich vergegenwärtigen. Muß sich erinnern, daß Maximen, die uns heute das Banalste scheinen, wie zum Beispiel, daß nicht alle Menschen einer Nation für den Ausbruch eines Krieges verantwortlich seien, als strafwürdige politische Verbrechen galten, muß sich vergegenwärtigen, daß ein Buch wie dieses heute uns selbstverständliche »Au-dessus de la Mêlée« vom Staatsanwalt ein »niederträchtiges« genannt wurde, daß der Autor verfemt war, die Aufsätze lange verboten gewesen sind, während eine Schar von Pamphleten gegen dieses freie Wort ungehindert ihren Weg nahm. Man muß sich zu diesen Aufsätzen immer die Atmosphäre, das Schweigen der anderen hinzudenken, um zu verstehen, daß sie so laut hallten, weil sie in eine ungeheure geistige Leere hineingesprochen waren, und wenn heute ihre Wahrheiten leicht als selbstverständlich abgetan werden können, sich an das wundervolle Wort Schopenhauers erinnern, »der Wahrheit ist auf Erden nur ein kurzes Siegesfest verstattet zwischen zwei langen Zeiträumen, in denen sie als paradox verspottet oder als banal mißachtet wird«. Heute mag (für einen flüchtigen Augenblick) der Zeitpunkt gekommen sein, wo viele dieser Worte als banal gelten werden, weil sie inzwischen von tausenden Nachschreibern kleingemünzt wurden. Wir aber haben sie zu einer Zeit gekannt, da jedes dieser Worte wie ein Peitschenschlag wirkte, und die Empörung, die sie damals verursachten, bezeugt das historische Maß ihrer Notwendigkeit. Nur die Wut der Gegner (heute noch erkenntlich in einer Flut von Broschüren) gibt Ahnung von dem Heroismus dieses Mannes, der sich zum erstenmal mit seiner freien Seele »über das Getümmel« erhob. Vergessen wir es nicht: »Dire ce qui est juste et humain« , zu sagen, »was gerecht und menschlich ist«, galt damals als das Verbrechen der Verbrechen. Denn damals war die Menschheit so toll vom ersten Blute, daß sie, wie Rolland einmal so wundervoll sagte: »Jesum Christum, wenn er auferstanden wäre, noch einmal gekreuzigt hätte, weil er sagte: Liebet einander.«

Über dem Getümmel
    A m 22. September 1914 erscheint im »Journal de Genève« jener Aufsatz »Au-dessus de la Mêlée« , nach dem flüchtigen Vorpostengeplänkel mit Gerhart Hauptmann die Kriegsansage an den Haß, der entscheidende Hammerschlag zum Bau der unsichtbaren europäischen Kirche inmitten des Krieges. Das Titelwort ist seitdem Kampfruf und Hohnwort geworden: aber mit diesem Aufsatz erhebt sich zum erstenmal im mißtönenden Gezänke der Parteien die klare Stimme der unbeirrbaren Gerechtigkeit, Tausenden und immer neuen Tausenden zum Trost.
    Ein merkwürdiges verwölktes tragisches Pathos beseelt diesen Aufsatz: geheimnisvolle Resonanz der Stunde, da Unzählige und darunter nächste Freunde verbluten. Das Erschütterte und Erschütternde eines gewaltsamen Aufbruchs des Herzens ist darin, ein losgerungener heroischer Entschluß, mit dem Ganzen einer wirr gewordenen Welt sich auseinanderzusetzen. In einem Hymnus an die kämpfende Jugend erhebt sich der Rhythmus: »O, heroische Jugend der Welt! Mit wie verschwenderischer Freude schüttet sie ihr Blut in die hungrige Erde! Wie wundervolle Opfergarben mäht die Sonne dieses herrlichen Sommers sie hin. Ihr alle, Jünglinge aller Völker, die ein gemeinsames Ideal gegeneinander stellt… wie teuer seid ihr mir, die ihr hingeht, um zu sterben. Ihr rächt die Jahre des Skeptizismus, der genießerischen Schwächlichkeit, in der wir aufwuchsen… Sieger oder Besiegte, Tote oder Lebende, seid glücklich!«
    Aber nach diesem Hymnus an die Gläubigen, die höchster Pflicht zu dienen meinen, richtet Rolland die Frage an die geistigen Führer aller Nationen: »Ihr, die ihr solche lebendigen Schätze an Helden in Händen hattet, wofür verausgabt ihr sie? Welches Ziel habt ihr der großherzigen Hingabe ihres Opfermutes gegeben? Den gegenseitigen Mord, den europäischen Krieg.« Und er erhebt die Anklage, daß sich die Führer nun mit ihrer Verantwortung feige hinter einem Götzen – dem »Schicksal«! – verstecken und, nicht genug, diesen Krieg nicht verhindert zu haben, ihn noch anfachen und vergiften. Entsetzliches Bild! Alles stürzt hin in diesem Strome, in allen Ländern, allen Nationen gleicher Jubel für das, was sie zermalmt. »Nicht nur die Leidenschaft der Rasse schleudert in blinder Wut die Millionen Menschen

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