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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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geopfert! Napoleon hatte nicht so unrecht, als er sagte: ›Die Politik ist das moderne Fatum!‹ Niemals war das antike Schicksal grausamer. Verbinden wir uns nicht mit dem Schicksal, Verhaeren! Seien wir mit den Unterdrückten, mit allen Unterdrückten. Sie gibt es überall. Ich kenne nur zwei Völker auf Erden: jene die leiden, und jene, die das Leiden verursachen.«
    Aber Verhaeren bleibt starr in seinem Haß. Er antwortet: »Wenn ich hasse, so ist dies darum, weil, was ich sah, fühlte, hörte, fürchterlich ist… Ich gestehe, daß ich nicht gerecht sein kann, da ich vor Traurigkeit und Zorn brenne. Ich stehe nicht neben den Flammen, sondern inmitten der Glut und leide und weine. Ich kann nicht anders.« Er bleibt dem Hasse treu, freilich auch Romain Rolland Oliviers »Haß gegen den Haß«. Menschlich werden ihre Beziehungen weiterhin noch durch Achtung gebunden, trotz des inneren Widerstreits, und selbst als Verhaeren zu einem Hetzbuch die Vorrede schreibt, trennt Rolland die Person von der Sache. Verhaeren weigert sich, »an die Seite seines Irrtums zu treten«, aber verleugnet nicht seine Freundschaft für Rolland und betont sie um so mehr, als es damals in Frankreich schon »als Gefahr galt, ihn zu lieben«.
    Auch hier sprechen zwei große Leidenschaften aneinander vorbei. Auch hier war der Aufruf vergebens. Der Haß hat die ganze Welt, selbst ihre edelsten Schöpfer und Gestalter.

Das europäische Gewissen
    W ieder wie so oft im Laufe bewegten Lebens hat der unerschütterliche Gläubige einen Brief zur Gemeinsamkeit in die Welt geworfen, wiederum vergebens. Die Dichter, die Gelehrten, die Philosophen, die Künstler, alle stehen sie zu ihren Vaterländern, die Deutschen sprechen für Deutschland, die Franzosen für Frankreich, die Engländer für England, alle für sich, keiner für alle. »Right or wrong – my country« ist ihr einziger Wahlspruch. Jedes Land, jedes Volk hat begeisterte Sprecher, die auch die unsinnigste seiner Taten blindlings zu rechtfertigen bereit sind, die seine Irrtümer, seine Verbrechen hinter rasch konstruierten moralischen und metaphysischen Notwendigkeiten gehorsam verbergen – nur ein Land, das allen Gemeinsame, das Mutterland aller Vaterländer, das heilige Europa hat keinen Sprecher, keinen Vertreter. Nur eine Idee, die selbstverständlichste einer christlichen Welt, bleibt ohne Anwalt, die Idee der Ideen, die der Menschlichkeit.
    In diesen Tagen mag Rolland aus vergangener Zeit die Stunde wieder heilig bewußt geworden sein, da er wie eine Botschaft für sein ganzes Leben jenen Brief Leo Tolstois empfing. Tolstoi war der einzige gewesen, der in dem berühmten Aufschrei »Ich kann nicht länger schweigen« inmitten eines Krieges in seinem Vaterlande aufgestanden war und die Rechte des Menschen gegen die Menschheit verteidigte, der Protest erhoben hatte gegen ein Gebot, das Brüdern den Mord der Brüder befahl. Nun war seine reine Stimme verklungen, die Stelle war leer, das Gewissen der Menschheit stumm. Und Rolland empfindet das Schweigen, das entsetzliche Schweigen des freien Geistes im Getümmel der Knechte furchtbarer als den Donner der Kanonen. Die er zu Hilfe rief haben ihn verlassen. Die letzte Wahrheit, die des Gewissens, hat keine Gemeinsamkeit, niemand hilft ihm, für die Freiheit des europäischen Geistes zu kämpfen, für die Wahrheit inmitten der Lüge, für die Menschlichkeit gegen den wahnwitzigen Haß. Er ist wieder allein mit seinem Glauben, mehr allein als in den bittersten Jahren seiner Einsamkeit.
    Aber Alleinsein hat für Rolland nie Resignation bedeutet. Zuschauen, wie ein Unrecht tätig wirkt, ohne Einspruch zu erheben, hat schon dem jungen Dichter so verbrecherisch geschienen wie das Unrecht selbst. »Ceux qui subissent le mal sont aussi criminels que ceux qui le font.« Und keiner so sehr wie der Dichter scheint ihm die Verantwortung zu haben, dem Gedanken das Wort zu geben und das Wort durch die Tat zu verlebendigen. Die bloße Arabeske zur Zeitgeschichte zu schreiben ist zu wenig: erlebt der Dichter die Zeit vom Mittelpunkt seines Seins, dann ist es seine Verpflichtung, für die Idee seines Seins zu wirken, die Idee lebendig zu machen. »Die Elite des Geistes stellt eine Aristokratie dar, die vorgibt, jene des Blutes zu ersetzen. Aber sie vergißt, daß jene damit begann, ihre Privilegien mit dem Blute zu bezahlen. Seit Jahrhunderten hören die Menschen viele Worte der Weisheit, aber selten sehen sie die Weisen sich aufopfern. Um die anderen

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