Stefan Zweig - Gesammelte Werke
versagt, so wirf mich hinweg! Achtzig und acht Jahre hab ich gelebt, achtzig und acht vergebens gewartet, daß ein Sinn wäre in meinem Überdauern und eine Tat entwüchse meiner Treue zu dir. Aber nun bin ich müde. Herr, ich will, ich kann nicht mehr! Herr, laß es genug sein! Herr, laß mich sterben!«
Erhobener Stimme bat und betete der alte Mann, sehnsüchtig hob er den Blick empor in den Himmel, der leidenschaftlich mit Sternen glänzte und heftig funkelte von ihrem versprengten Licht. Er stand und wartete, der alte Mann: würde Gott ihm Antwort geben, endlich zum erstenmal? Geduldig wartete er, und allmählich fiel die Hand, die er unbewußt erhoben, leise herab und Müdigkeit kam über ihn, unermeßliche Müdigkeit. Ein betäubendes Hämmern fühlte er mit einmal in den Schläfen und gleichzeitig ein Ziehen und Schwanken in Fuß und Knie; ohne daß er es wollte und wußte, glitt er nieder in süßer Entkräftung, und er ließ sich niedergleiten, schwer und leicht zugleich, als wäre sein Leib entblutet. Aber wie eine Lust fühlte er diese Schwäche. »Das ist der Tod«, dachte er dankbar, »Gott hat mich erhört.« Und fromm und still streckte er das Haupt auf die Erde, die herbstlich nach Vergängnis roch. »Ich hätte mein Sterbehemd anziehen sollen«, erinnerte er sich noch dumpf, aber schon war er zu müd, nur unbewußt zog er den Mantel enger an sich. Dann schloß er die Augen und wartete mit Zuversicht auf den erbetenen Tod.
Aber es kam nicht der Tod zu Benjamin, dem bitter Geprüften, in jener Nacht. Nur ein Schlaf umfaßte zärtlich und eng den ausgemüdeten Leib und füllte den innern Blick ihm mit Bild und Traum.
Dies aber war der Traum, den Benjamin träumte in jener Nacht seiner letzten Prüfung. Noch einmal ging und tappte und flüchtete er durch die engen, dumpfen, dunkelnden Gassen von Pera, nur dunkler noch war jetzt ihr Dunkel, als es vordem gewesen, und schwarz und verwölkt der Himmel über Höhe und First. Und bis in den Traum erschrak er noch einmal, daß das Herz ihm hart an die Brust schlug, als er Schritte hinter sich hörte, und abermals überkam ihn wie vordem die Angst, einer könnte ihm folgen, und abermals flüchtete er fort. Aber immer waren die Schritte noch da, vor ihm, hinter ihm und nun auch rings in dem schweren und leeren, im schwarzen Gefild. Er konnte nicht sehen, wer jene waren, die da gingen zur Rechten, zur Linken und vor und hinter ihm, aber viele mußten es sein, eine große wandernde Schar, er unterschied die schweren Schritte von Männern und, spangenklingend, die leichteren der Frauen und der Kinder schwebenden Fuß. Ein ganzes Volk mußte es sein, das da hinzog durch die mondlos metallene Nacht, und ein trauerndes Volk, ein bedrücktes. Denn ständig ging dumpfes Stöhnen und Murmeln und Rufen aus ihren unsichtbaren Reihen, und er fühlte, sicherlich gingen sie schon so seit undenklicher Zeit, längst müde der erzwungenen Wanderschaft und des Nichtwissens, wohin. »Wer ist dies verlorene Volk?« hörte er sich selber fragen. »Warum ist ihm und gerade ihm der Himmel verhangen? Warum wird ihm und ihm allein keine Rast?« Aber er ahnte es nicht in seinem Traum, wer diese Wandernden waren, und doch faßte Mitleid ihn brüderlich an; furchtbarer noch als klingende Klage bedrückte ihn dies Sehnen und Stöhnen im Unsichtbaren. Und unbewußt murmelte er: »Man kann doch nicht ewig so gehen, immer im Dunkeln und unkund des Wegs. Kein Volk kann so leben ohne Heimstatt und Ziel, wandernd und ewig umgrenzt von Gefahr. Ein Licht müßte man ihnen entzünden, einen Weg ihnen weisen, sonst verzagt und verdorrt es, dies gejagte, verlorene Volk. Führen müßte es einer und heimführen, einen Weg ihnen allen erhellen. Ein Licht müßte man finden, sie brauchen ein Licht.«
Die Augen brannten ihm vor Schmerz, so faßte ihn Mitleid mit diesem verlorenen Volk, das da, leise klagend und schon verzagend, hinging durch die lautlos lauernde Nacht. Doch da er verzweifelt die Ferne ausmaß, da war ihm, als ob am letzten Rand seiner Schau ein leises Leuchten erglänzte, leise, leiseste Spur eines Lichts, ein Fünkchen bloß oder zwei, flirrend wie Irrlicht im Dunkeln. »Man muß ihm nach«, murmelte er, »auch wenn es ein Irrlicht ist. Vielleicht kann man an Kleinem ein Großes entzünden. Man muß es herbringen, das Licht.« Und im Traume vergaß Benjamin, daß seine Glieder alt waren und morsch; wie ein Knabe, flink und beflügelt mit springenden Sohlen, lief er, das Licht zu
Weitere Kostenlose Bücher