Stefan Zweig - Gesammelte Werke
bedrückt und voll heimlichen Grolls. Ach, immer trog die Verheißung, ein Narr, wer ihr glaubte, und die Wunder, glorreich beschrieben in heiliger Schrift und schön im Himmel der Ferne, wie feurige Wolken leuchteten sie nur her von jenen gottnahen Zeiten, aber nie senkte eines sich mehr nieder in ihren täglichen Tag. Gott vergaß seines Volkes, er ließ, die einstens er auserlesen, gleichgültig allein in Trübsal und Kümmernis. Keine Propheten weckte er mehr, die sprachen in seinem Namen; töricht darum, unsichern Zeichen zu glauben und auf Wunder und Wende zu warten! Die Juden im Bethaus zu Pera, sie beteten nicht weiter, sie fasteten nicht mehr. Verdrossen saßen sie in den Ecken und kauten mit verbitterten Lippen gezwiebeltes Brot. Und nun, da die Erwartung des Wunders nicht mehr ihre Blicke erhellte, ihre Stirnen beglänzte, wurden sie wieder die kleinen, kläglichen Menschen, die sie vordem gewesen, arme, bedrückte Juden, und ihre Gedanken, die eben noch groß und mächtig zu Gott aufstrebten, eng und krämerisch wie ihr täglicher Tag. Sie maulten und rechneten und klagten einer dem andern, wozu sie gekommen den weiten, den teuren, den vergeblichen Weg, und es reuten sie die guten Gewänder, die sie abgenützt auf den Straßen, die versäumten Geschäfte und die verlorene Zeit. Im voraus fürchteten sie schon, heimzukehren in das Gespött der Ungläubigen und den Zank der harrenden Frauen. Und da immer das Herz des Menschen am grimmigsten gegen jenen sich wendet, der zuerst es erhoben, dann aber zurückwirft, enttäuscht, in die eigene Enge, häuften sie all ihren dunklen Groll gegen die römischen Brüder und gegen Benjamin, ihren falschen Boten: wahrlich, ein bitter Geprüfter nur war er, den Gott nicht liebte, und Bitteres ging aus von ihm. Als Marnefesch – es war schon nahe der Nacht – endlich im Bethause erschien, wiesen sie ihm deutlich ihr verärgert Gefühl. Nicht wie vordem standen sie fürchtig auf bei seinem Nahen, nicht grüßten sie ihn; absichtlich hielten sie ihre Blicke weg: was ging er sie an, der alte Jude aus Rom! War er doch ohnmächtig wie sie alle, und Gott sah so wenig auf ihn wie auf ihr eigenes gebeugtes Geschick.
Benjamin spürte sogleich das Böse in dieser Stille, er spürte den abgewendet schweigenden, dumpfen, sumpfigen Groll. Er sah betrübt, wie unter den schiefen Stirnen die Blicke ihn mieden, und die Enttäuschung der andern erschütterte ihn wie eine eigene Schuld. So bat er den Vorsteher, die andern aufzurufen, er hätte noch ein Wort an die Gemeinde, und der Vorsteher tat nach seinem Begehren. Unwillig und verdrossen hoben sich der Kauenden Köpfe: was konnte er ihnen noch sagen, der Fremde, der falsche Versprecher? Und doch, Mitleid überkam sie, da sie jetzt den Uralten sahen, der, gestützt auf den Stock, mühsam von seinem Sitz sich hob; nicht ganz raffte er sich empor, sondern wie ein Gebückter, ein Gebeugter stand er, der Älteste von allen, vor ihrem Verstummen. Anstrengung ward ihm das Wort:
»Ich bin noch einmal gekommen, ihr Brüder, um von euch Abschied zu nehmen. Und auch, vor euch mich zu beugen, bin ich gekommen, denn wider Willen habe ich eure Herzen beschwert. Ungern, ihr wißt es, bin ich gegangen zum Kaiser, aber wie sollte ich euch wehren, da ihr selbst mich gefordert. Noch ein Kind, haben die Alten so mich genommen auf ihren Weg, aus dem Schlaf mich gerissen, der ich nicht wußte und nicht wollte, und immer sagten und kündeten sie, es sei meines Lebens Sinn, den Leuchter zu lösen. Glaubt mir, Brüder, furchtbar ist es, einer zu sein, den Gott immer ruft und doch niemals erhört, den er lockt mit Zeichen und sie nie dann erfüllt. Besser, daß ein solcher im Dunkel bliebe und keiner blickte und hörte auf ihn. So bitte ich euch: vergebt und vergeßt mich und fragt mir nicht nach! Nennt nicht den Namen mehr dessen, der der Unrechte war. Und wartet mit guter Geduld, bis endlich der Rechte ersteht, der das Volk und den Leuchter erlöst.«
Dreimal beugte sich der alte Mann vor der Gemeinde wie ein Schuldiger, der seine Schuld bekennt. Dreimal schlug er die Brust mit seiner kraftlosen linken Hand – die andere, die zerbrochene, hing schlaff nieder und leer –, dann raffte er sich auf und durchschritt den Raum bis zur Tür. Keiner regte sich, keiner antwortete ihm. Nur Jojakim, eingedenk seiner Pflicht, den Alten zu stützen, eilte ihm nach bis zur Schwelle. Aber dringlich wehrte Benjamin ab: »Geh zurück nach Rom, und wenn sie fragen nach
Weitere Kostenlose Bücher