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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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die Vorstädte, nach Montparnasse. Nirgends ist eine halbe Stunde Stille von morgens bis morgens in dieser aufgeschwellten, fiebrigen Stadt, bis weit hinaus nach St. Cloud und Sèvres zucken noch die Nerven ihrer ruhelosen Leidenschaft: nirgends, nirgends mehr »la douce France«, nirgends eine Stelle, wo man still gegen Abend zu das silberne Licht über die Seine sehen kann, nirgends mehr das alte Paris; die weiche wollüstig warme Stadt hat Muskeln bekommen und hämmert den Takt wie ein fanatischer Arbeiter –, ihr Glanz zischt auf wie ein zuckendes Raketenspiel. Man muß weit fort, um hinter ihrem englischen, ihrem amerikanischen Antlitz wieder Frankreich, das Frankreich von einst zu fühlen, um beschaulich zu genießen, was einem hier Paris in tausend flirrende Funken zerschlägt. Und plötzlich, sehnsüchtig nach einer Stunde Entspannung, erinnere ich mich, als einzige der großen Kathedralen jene von Chartres nicht gesehen zu haben; sie ist anderthalb Stunden weit, und ich weiß im voraus schon: zwischen ihr und Paris liegt ein Jahrtausend –, in anderem, ruhevollerem Takt schwingt dort der Rhythmus der Zeit.
     
    Seltsam: schon der Schnellzug, der im Flug an den Telegraphenstangen vorbeiknattert, scheint einem Entspannung gegen das Flimmerspiel von Paris. Man lehnt sich hin ans Fenster und sieht die flache Landschaft: der Blick scheint einem vertraut, denn von den Bildern der Impressionisten meint man jeden Baum, jeden Kanal, jeden Tümpel zu kennen. Wie oft haben Monet, Pissaro, Renoir, Sisley dies alles gemalt, die kleinen Gärten im nassen Vorfrühlingsglanz, die schüchternen Birken, die glitzernden Rasen, dies üppige und doch flache, dies volle und doch ein wenig monotone Land um Paris. Nirgends ein rechter Wald, nirgends ein Hügel, nirgends auch von ferne nur ein wahrhafter Berg; immer nur Wiese und Häuser und Wasser, sorglich bestellt und nutzbar gemacht. Schon ermüdet der Blick, der nichts Sonderliches in der Runde faßt; aber plötzlich, wie der Zug sich zu verlangsamen beginnt, steigt etwas aus der niederen Landschaft mächtig, übermächtig auf, ein großes und wunderbares Gebilde. »Wie ein kniender Riese, der seine Arme betend über die niedere Ebene zu Gott aufhebt –«, so hat Paul Claudel einmal eine der Beschwörungen der französischen Kathedrale begonnen. Und plötzlich, mit dem gewaltsamen Einbruch einer Wahrheit, fällt mir die Zeile wieder ein: denn wirklich, wie ein Fremder, wie ein gewaltiger Riese, gedrungenen Leibes hebt sich hier über der niederen Wölbung einer provinziellen Stadt das schwere wuchtige Dach einer Kathedrale, und über sie hochgereckt zu ewigem Gebet ragen die beiden Türme in den Himmel hinein. Gerade das scheinbar Sinnlose, daß hier mitten im leeren Land, mitten aus einer niederen gleichgültigen Stadt ein so ungeheurer Bau emporbricht, gerade dies schafft einen Eindruck unvergeßlicher Großartigkeit. In Paris scheint es verständlich, wenn im unendlichen Gedränge der Straßen Notre-Dame wie ein gewaltiger Brunnen die Gläubigkeit von Millionen sammelt, und man kann sich Wien oder Köln kaum denken ohne die steinerne Spitze, in die das Gewirr der Häuser gleichsam befreit aufschießt; hier aber wird die Dimension zur Überraschung, die Proportion zum Erlebnis.
    Wer hat sie gebaut, diese gewaltige Kathedrale, in das Leere des Landes, hoch über die kleine alltägliche Stadt? Die Namen der Meister, sie sind verschollen, und wüßte man sie auch, ihre Namen sagten nicht viel. Denn nicht einer oder einzelne können solche Wunder schaffen, die Jahrhunderte brauchen, um wahrhaft dazusein und ins Ewige zu reifen; die wahren Baumeister, sie hießen: Glaube und Geduld, Glaube von Tausenden namenlosen, verschollenen Menschen und Geduld von Abertausenden einsam wirkenden Werkleuten. Vergebens durchforscht man die Linien, die Pläne: sie haben keine Antwort auf die unabweisliche Frage, wie einzelne einstmals den Mut aufbrachten, eine solche Riesenkathedrale zu bauen mitten ins Leere der Natur, kaum angelehnt an ein ärmliches Städtchen. War da nur der Ehrgeiz, es Paris, der gewaltigen Schwester, an Größe gleichzutun, jener Ehrgeiz, der die Kirchen Italiens, die Dome Deutschlands, die Beifriede Belgiens zwang, sich, jeder immer mächtiger als alle früheren, zu gestalten? Oder war hier mitten im flachen Land, wo kaum ein Hügel sich über die Wiesen hebt, vor grauen Jahren vielleicht einer gewesen, der auf ferner Wanderschaft Berge gesehn und getürmten Fels, und

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