Stefan Zweig - Gesammelte Werke
mitten im niedren Land, in gestaltetem Stein ihren frommen Willen bewahren über die Zeit: ehrfürchtig spürt man hier den »Geist der Gotik«, das Jahrhundert des Glaubens und der Geduld, ein Jahrhundert, das nicht wiederkehrt. Denn nie werden solche Werke in unserer Welt wieder entstehen, die mit anderen Maßen die Stunden zählt und hinlebt in anderen Geschwindigkeiten: die Menschen bauen keine Dome mehr.
Die Menschen bauen keine Dome mehr: wie Armut fühlt man vorerst unsere Zeit in der Heimkehr von solcher dauerhaften Gestalt. Unsere Pläne zielen auf rasche Zwecke, hastiger geht unser Rhythmus, und niemals mehr überwächst ein einzelnes Werk ein ganzes Geschlecht, ja selten noch ein einzelnes Leben. Wir, die ein sprechender Funke in einer Sekunde zu anderen Kontinenten reden läßt, haben verlernt, in langsamen Steinen, in unendlichen Jahren unser Wesen auszudrücken: unsere Wunder sind handlicher geworden und geistiger, unsere Träume weniger kompakt. Wie von etwas großartig Fremdgewordenem, wie von dem Parthenon oder den Pyramiden nimmt die Seele Abschied von so ragender Gestalt, und wir sind uns wohl bewußt, daß wir für Unendliches, das die Welt seitdem gewonnen, doch die Fähigkeit verloren haben, so herrlich den Geist eines ganzen Volkes, den Genius einer Zeit in einem Werke zu verkörpern. Aber dies ist dahin: die Menschen bauen keine Dome mehr.
Und doch, wie der Zug jetzt zurücksaust durch die abendlich dunkelnde Landschaft, taucht dort, wo noch nicht der Blick, nur erst das Gefühl Paris, die gigantische Stadt ahnt, eine glühende Kuppel auf, rötlich gewölbt über dem Horizont bis hinauf in den unsichtbaren Himmel. Es ist der Feuerkreis von Paris, ein anderer Dom, der dort ohne Stein und Stütze allnächtlich aufgerichtet ist, einzig gebaut – wie jener von Chartres aus Tausenden von Quadern – aus Hunderttausenden von Lichtern und elektrischen Flammen. Allnächtlich unzerstörbar steht dieser glühende Dom von Licht über der brausenden Stadt, die herrlichste Kathedrale unserer Zeit, zusammengefügt aus den unzählbaren elektrischen Energien, aus dem heißen zuckenden Leben der Millionen. Mag sein, er ist nicht aus dem gleichen Glauben gestaltet wie jene alten Kathedralen, aber doch aus dem gleichen brennenden Willen, aus der gleichen unsterblichen irdischen Energie. Herrlich gewölbt, überirdisch leuchtend ragt er hoch in die lauschende Nacht, dieser neue Dom von Paris, und vielleicht würden jene Baumeister von einst ihn so herrlich, so gewaltig und göttlich finden, wie wir ihre uns überkommenen Werke. In anderen Zeichen schreiben eben die Zeiten ihre Geschichte in die Landschaft der Erde, und nichts ist wunderbarer, als im Zwischenraum einer Stunde das eine und das andere Zeichen ihres Lebenswillen (so fremd sie einander auch scheinen) zu lesen, zu verstehen und zu lieben.
Ypern
1928
V or Jahren und Jahren war ich einmal in dieser nun so tragisch berühmten Stadt. Man ratterte zwei oder drei Stunden lang von Brügge mit einer wackeligen Dampfvizinalbahn, kam abends an, ein sehr vereinzelter Fremder, der Mühe hatte, irgendeinen Gasthof aufzustöbern: die Leute schliefen schon um neun Uhr, und nur ein paar kleine Estaminets zwinkerten Petroleumlicht aus halbgeschlossenen Fensterläden. Der große Platz vor den Hallen schwarz und leer, ein viereckiger Teich. Stille. Wahrhaftig, man hätte sich nicht gewundert, wäre plötzlich ein mittelalterlicher Nachtwächter aus dem Schatten getreten, um meistersingerische Schlafmützenweis’ durch die Gassen zu tuten. Riesig aber wuchteten aus diesem Schweigen die quadratischen Massen jenes herrlichen Gebäudes hervor, der Stadthalle; sie und die Kathedrale zu sehen, war ich eigens gekommen, drei Vizinalbahnstunden weit in diese behäbige und vergessene Provinzlerei.
Jetzt flammt der Name Ypern, der »ville martyre«, auf allen Plakaten von Lille bis Ostende, von Ostende bis Antwerpen und weit ins Holländische hinein: Gesellschaftsreisen, Automobilexkursionen, Separattouren überschreien sich in Angeboten, täglich sausen zehntausend Menschen (und vielleicht mehr!) für ein paar Stunden herüber: Ypern ist die great show Belgiens geworden, eine schon gefährliche Konkurrenz für Waterloo, ein Man-muß-es-gesehen-Haben aller Touristen. Widerstand regt sich als erstes Gefühl, solchem Wirbel nachträglicher Schlachtenbummler sich einzudrängen. Aber Verantwortung mahnt, nichts zu übersehen, was die Geschichte unserer Zeit sinnlich
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