Stefan Zweig - Gesammelte Werke
verlebendigt; nur wenn wir uns stark und bewußt orientieren, werden wir der furchtbaren Vergangenheit und damit der Zukunft gerecht.
Also nach Ypern. Aber in keinem der Massenautomobile, darin gemietete Führer in vorgeschriebener Route täglich Kirchhöfe, Monumente, Ruinen und zweihunderttausend Tote in wohlassortiertem Programm abschnurren. Lieber den kleinen Umweg nach Nieuport hinüber. Breite, bequeme Straßen, asphaltgegossenes glattes Gummiband zuerst, wo die Luxuswagen, geräuschlos federnd, von Badeort zu Badeort sausen, wahrscheinlich ohne rechts und links die schon langsam versandenden Spuren des Krieges überhaupt zu bemerken. Denn man muß scharf hinsehen, um sich zu vergegenwärtigen, daß, was jetzt als dünne Wasserschnur Zickzack durch die Felder läuft, vier Jahre lang Laufgraben war für geduckte Bataillone. Daß der runde, blaue Wolken spiegelnde Tümpel dort, aus dem gelbgefleckte Kühe mit ihren rosenweichen Nüstern gemütlich Wasser lecken, einem menschenmörderischen Trichtereinschlag eines schweren Geschützes sein Dasein dankt.
Ja, man muß anfangs noch scharf hinsehen, um all diese Mementos zu bemerken (denn die Zeit löscht in der nachgiebigen Erde die Spuren fast so schnell wie in den vergeßlichen Gehirnen der Menschen). Aber bald in der Nähe von Nieuport, der einstigen Hauptfront, mehren sich beängstigend die Zeichen. Immer mehr dieser troglodytischen Höhlen, dann schon zerspellte Bäume mit weggegiftetem Laub, skeletthafte Arme anklägerisch in den Himmel hebend. Immer mehr und immer mehr der weggeworfenen und zerstampften Wellblechdecken, der gestützten Unterstände…
Die Stadt ohne Herz
Rasch also auf Ypern zu. Rechts und links fließendes Gold von reifendem Getreide, körnerschwer: wieder spürt man’s, auch in der Natur lebt immer alles Lebendige von den Toten. Kranke Wälder mit abgefressenem Laub, vom Gasgift vergilbt, strecken ihre Stummel wie hilfeschreiend einem entgegen. Und an den vielen Friedhöfen rechts und links von der Straße spürt man unverkennbar: der Brennpunkt vierjährigen Kampfes muß schon nah sein. Kreuze, Kreuze, steinerne Armeen von Kreuzen, erschütternd durch den Gedanken, daß unter jedem dieser blankpolierten, rosenumflochtenen Steine ein Mensch ruht, der ohne diesen Wahnwitz noch heute, vierzigjährig, fünfzigjährig, in voller Gesundheit, Blüte und Kraft stünde. Denn ohne diesen Gedanken möchte man sie sonst schön nennen, diese beinahe musikalisch in die leere Landschaft hineinkomponierten Totenhaine, australische, kanadische, englische, belgische, französische und deutsche.
Ein paar enge Straßen noch, und man ist auf dem Marktplatze. Alles steht da wie einst, schön erneuert, frischer vielleicht noch, nur – entsetzlich – die gigantische Stadthalle ist weg, dieser zyklopische Riesenbau, der Stolz Belgiens, um den einstens die ganze Stadt mit ihren Häuserchen sich scharte wie Kücken um die Henne. Dort, wo diese Herrlichkeit heroisch wuchtete, Jahrhunderten trotzend, steht jetzt ein Nichts, ein paar rauchige Steinstümpfe, wie kariöse Zähne schwarz und zerfressen gegen den Himmel gebleckt. Das Herz der Stadt ist ausgerissen, und man denke es sich aus im Vergleich, daß in Berlin statt des Schlosses und der Linden ein schottriger Trümmerhaufen läge.
Schaurig das anzusehen. Schauriger noch als die Photographien in den Schaufenstern, die Ypern 1918 in einer Flugaufnahme zeigen, als eine Kraterlandschaft, eine einzige Schuttwucherung. Aber diese schaurige Wirkung der Nichtwiederherstellung gerade dieses mächtigsten Baues entspringt einer Absicht, denn es ist bestimmt, daß dieses eine und gewaltigste Gebäude der belgischen Kriegswelt für ewige Zeiten Trümmerhaufen verbleiben soll, ähnlich wie die Heidelberger Ruine, damit Geschlechter und Geschlechter sich des Geschehenen erinnern. Wahrscheinlich beabsichtigte ein Gefühl der Rache, damit den Abscheu und das Ressentiment gegen die Eindringlinge zu verewigen, das Martyrium dieser Stadt noch Generationen zu zeigen. Aber mag diese Absicht die ursprüngliche gewesen sein – die Wirkung wird eine andere. Was als Denkmal des Krieges bestimmt war, wirkt nun schon als Denkmal gegen den Krieg, und dieses zerschmetterte, beinahe zu Schutt und Staub zermörserte Kunstdenkmal erweist sich als die denkbar furchtbarste Mahnung für alle, die ihre Heimat lieb haben, nie mehr die heiligsten Werke ihrer Geschichte solchen mörderischen Zerstörungen auszusetzen.
Meningate
Sein
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