Stefan Zweig - Gesammelte Werke
der nun den anderen die Sehnsucht verriet, ein so Hohes zu schaffen, daß man adlergleich blicken könnte von Horizont zu Horizont? Jedenfalls: sie huben an, sich so ein steinernes Gebirge zu bauen, eine Zwingburg Gottes, mächtig gequadert gegen den Ansturm der Zeit, und sie rasteten nicht, ehe sie vollendet war. Wo ein Geschlecht endete, hub ein anderes an, und so wuchs diese riesige Wölbung mit den Türmen bis hinauf zum glitzernden Knauf, zur luftigen Wohnung der Glocken.
Wie aber dieser wölbige Fels gebaut war, werden sie selbst erschrocken sein, diese Menschen des hellen sonnigen Landes, denn sein Inneres mag dunkel und kalt gewesen sein wie eine Höhle. Das Ungeheure dieser Wölbung, Stein in Stein, atmete wohl Düsternis und ein geheimes Grauen: da taten sie, um das Lastende dieses grauen Lichtes zu mildern, bunte Scheiben in die Höhlen der Fenster, die Sonne zu filtern in allen Farben und die Buntheit des Lebens auch hier im Dunkel selig zu gewahren. Diese Glasfenster von Chartres sind nun eine Herrlichkeit ohnegleichen. Nicht so dicht gedrängt wie jene der Sainte Chapelle in Paris (die eigentlich nur funkelndes Glas ist, von schmalen Steinstäben gespalten), teilen sie in blauen Ovalen, in glühenden Rosetten unendlich vielfältig die starre Wand: wie in der Grotte von Capri strahlt magisch das Licht aus einer unsichtbaren Ferne kobaltblau und violett in unfaßbarer Bindung und Zerstreuung in den Raum der nun weich sich löst zu einer unbeschreiblichen Dämmerung. Und jede dieser Farben ist satt und leuchtend, ist von jener reinen Tiefe, wie sie in unserer vielfältigen Welt einzig die Alpenblumen haben, der Enzian, die Schneerose und das Edelweiß, wie unsere neue Chemie und die donnernden Fabriken sie nie mehr so glühend dem flüssigen Glas einzuschmelzen vermochten. Mitten in Kühle und Höhe fühlt man sich im Feuer, in einer einzigen Seligkeit des Blickes.
Doch auch dies war jenen Namenlosen noch nicht genug des Lebens in diesem ragenden Haus: jetzt war der Fels zwar schon beblümt und beglänzt, war Natur geworden und Landschaft. Aber noch fehlte das wahre Leben darin, der Mensch in all seinen Formen und das wimmelnde Getier. So stellten sie Bildnisse, steinerne Gestalten überall hin, die Starre des Felsens zu beleben: unübersehbar ist diese Schar. Vor den Portalen stehen sie schon streng als Wächter, die Engel und Erzväter, aus den Säulen strecken sie sich streng und gotisch schmal hervor, sie flügeln als zackiges Fledermausgetier aus den Nischen, beugen sich aufgerissenen Maules als Wasserspeier vom Turm. Die Wölbungen füllen sie als quirlende Haufen, als wandernde Erzählung, rings um den Altar gürten sie sich als plastische Legenden. Verkündigung und Geburt und Auferstehung, die Feiertage des Jahres und die Legenda Aurea und den verlorenen Sohn und den guten Samariter: alles sieht man hier im Steine leben und in den Fenstern glühend gebildet, und niemand vermöchte die Fülle der Figuren zu Ende zu zählen. Sind es Tausende oder Zehntausende – als Gestrüpp und Dickicht drängt sich menschliche Gestalt hier zwischen den ragenden Bäumen der Säulen bis hoch zur Wölbung empor. Alle Stile, alle Formen sind versammelt, und jene Wand um den Altar, die Jean de Beauce im vierzehnten Jahrhundert begann, und die das achtzehnte erst vollendete, spiegelt die ganze Varietät der Plastik: in wenigen Minuten hat man Jahrhunderte der Kunstgeschichte durchschritten. Und man weiß, man sieht sich nie zu Ende, denn ganze Geschlechter von Steinmetzen und Bildnern haben dies irdische Heer von Gestalten ersonnen, das sich hier ewig zu Ehren Gottes versammelt.
Aber ihre ganze, ihre unübersehbare Schar, wie sie von Säule und Krypta und Wölbung und Wand sich zusammendrängt – sie fühlt man erst an den lebendigen Menschen von heute. Es ist Sonntag, und die Bürger füllen den Dom: doch nur gesagt ist dies Wort, denn sie füllen ihn nicht. Sie füllen ein paar Bänke bloß, und hier und dort scharen sie vor einem Bilde sich zusammen; aber wie bröcklig, wie ärmlich ist dies Menschenhäufchen neben der Unzahl der Steingestalten, wie winzig der Klüngel Beter unter dem riesigen Gestühl der Kathedrale. Diese Kirche hätte Raum für ein ganzes Geschlecht, und es ist ihr heroisches Beispiel, ewig zu groß zu bleiben für alle irdischen Zwecke, ewig alle Möglichkeiten zu überragen und nur ein Symbol des Unendlichen zu sein. Nur den Glauben wollten sie verewigen, die diese Kathedrale auf richteten
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