Stefan Zweig - Gesammelte Werke
sogenannte leichte Musik, die Tanzmusik, wurde zur vollkommenen Musik. Das Publikum tanzte viel und wollte nicht immer dieselben Walzer hören. Darum waren die Musiker genötigt, immer Neues zu bieten und sich gegenseitig zu überbieten. So formte sich neben der Reihe der hohen Musiker Gluck und Haydn und Mozart, Beethoven und Brahms eine andere Linie von Schubert und Lanner und Johann Strauß Vater und Johann Strauß Sohn zu Lehêr und den andern großen und kleinen Meistern der Wiener Operette. Eine Kunst, die das Leben leichter, belebter, farbiger, übermütiger machen wollte, die ideale Musik für die leichten Herzen der Wiener.
Aber ich sehe, ich gerate in Gefahr, ein Bild von unserem Wien zu geben, das gefährlich jenem süßlichen und sentimentalen nahekommt, wie man es aus der Operette kennt. Eine Stadt, theaternärrisch und leichtsinnig, wo immer getanzt, gesungen, gegessen und geliebt wird, wo sich niemand Sorgen macht und niemand arbeitet. Ein gewisses Stück Wahrheit ist, wie in jeder Legende, darin. Gewiß, man hat in Wien gut gelebt, man hat leicht gelebt, man suchte mit einem Witz alles Unangenehme und Drückende abzutun. Man liebte Feste und Vergnügungen. Wenn die Militärmusik vorübermarschierte, ließen die Leute ihre Geschäfte und liefen auf die Straße ihr nach. Wenn im Prater der Blumenkorso war, waren dreimalhunderttausend Menschen auf den Beinen, und selbst ein Begräbnis wurde zu Pomp und Fest. Es wehte eine leichte Luft die Donau herunter, und die Deutschen sahen mit einer gewissen Verachtung auf uns herab wie auf Kinder, die durchaus nicht den Ernst des Lebens begreifen wollen. Wien war für sie der Falstaff unter den Städten, der grobe, witzige, lustige Genießer, und Schiller nannte uns Phäaken, das Volk, wo es immer Sonntag ist, wo sich immer am Herde der Spieß dreht. Sie alle fanden, daß man in Wien das Leben zu locker und leichtsinnig liebte. Sie warfen uns unsere »jouissance« vor und tadelten zwei Jahrhunderte lang, daß wir Wiener uns zu viel der guten Dinge des Lebens freuten.
Nun, ich leugne diese Wiener »jouissance« nicht, ich verteidige sie sogar. Ich glaube, daß die guten Dinge des Lebens dazu bestimmt sind, genossen zu werden und daß es das höchste Recht des Menschen ist, unbekümmert zu leben, frei, neidlos und gutwillig, wie wir in Österreich gelebt haben. Ich glaube, daß ein Übermaß an Ambition in der Seele eines Menschen wie in der Seele eines Volkes kostbare Werte zerstört, und daß der alte Wahlspruch Wiens »Leben und leben lassen« nicht nur humaner, sondern auch weiser ist als alle strengen Maximen und kategorischen Imperative. Hier ist der Punkt, wo wir Österreicher, die wir immer Nicht-Imperialisten waren, uns mit den Deutschen nie verständigen konnten – und selbst nicht mit den Besten unter ihnen. Für das deutsche Volk ist der Begriff »jouissance« verbunden mit Leistung, mit Tätigkeit, mit Erfolg, mit Sieg. Um sich selbst zu empfinden, muß jeder den anderen übertreffen und womöglich niederdrücken. Selbst Goethe, dessen Größe und Weisheit wir ohne Grenzen verehren, hat in einem Gedicht dieses Dogma aufgestellt, das mir von meiner frühesten Kindheit an unnatürlich schien. Er ruft den Menschen an:
»Du mußt herrschen und gewinnen,
Oder dienen und verlieren,
Leiden oder triumphieren,
Amboß oder Hammer sein.«
Nun, ich hoffe, man wird es nicht impertinent finden, wenn ich dieser Alternative Goethes, »Du mußt herrschen oder dienen«, widerspreche. Ich glaube, ein Mensch – wie auch ein Volk – soll weder herrschen noch dienen. Er soll vor allem frei bleiben und jedem anderen die Freiheit lassen, er soll, wie wir es in Wien lernten, leben und leben lassen und sich seiner Freude an allen Dingen des Lebens nicht schämen. »Jouissance« scheint mir ein Recht und sogar eine Tugend des Menschen, solange sie ihn nicht verdummt oder schwächt. Und ich habe immer gesehen, daß gerade die Menschen, die, solange sie konnten, frei und ehrlich sich des Lebens freuten, in der Not und in der Gefahr dann die Tapfersten waren, so wie auch immer die Völker und Menschen, die nicht aus Lust am Militarismus kämpfen, sondern nur, wenn sie dazu gezwungen sind, schließlich die besten Kämpfer sind.
Wien hat das gezeigt in der Zeit seiner schwersten Prüfung. Es hat gezeigt, daß es arbeiten kann, wenn es arbeiten muß, und dieselben angeblich so Leichtsinnigen wußten, sobald es das Wesentliche galt, wunderbar ernst und entschlossen zu sein. Keine
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