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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Stadt nach dem Weltkriege war durch den Frieden von 1919 so tief getroffen worden wie Wien. Denken Sie es sich aus: die Hauptstadt einer Monarchie von vierundfünfzig Millionen hat plötzlich nur noch vier Millionen um sich. Es ist nicht die Kaiserstadt mehr, der Kaiser ist vertrieben und mit ihm all der Glanz von Festlichkeit. Alle Arterien zu den Provinzen, aus denen die Hauptstadt Nahrung zog, sind abgeschnitten, die Bahnen haben keine Waggons, die Lokomotiven keine Kohle, die Läden sind ausgeräumt, es ist kein Brot, kein Obst, kein Fleisch, kein Gemüse da, das Geld entwertet sich von Stunde zu Stunde. Überall prophezeit man, daß es mit Wien endgültig zu Ende ist. Gras werde in den Straßen wachsen, Zehntausende, Hunderttausende müßten wegziehen, um nicht Hungers zu sterben; und man erwägt ernstlich, ob man nicht die Kunstsammlungen verkaufen solle, um Brot zu schaffen, und einen Teil der Häuser niederreißen angesichts der drohenden Verödung.
    Aber in dieser alten Stadt war eine Lebenskraft verborgen, die niemand vermutet hatte. Sie war eigentlich immer dagewesen, diese Kraft des Lebens, diese Kraft der Arbeit. Wir hatten uns ihrer nur nicht so laut und prahlerisch gerühmt wie die Deutschen, wir hatten uns selbst durch unseren Schein der Leichtlebigkeit täuschen lassen über die Leistungen, die im Handwerk, in den Künsten im stillen immer getan worden waren. Genau wie die Fremden gern Frankreich sehen als das Land der Verschwendung und des Luxus, weil sie nicht weit über die Läden der Juweliere in der Rue de la Paix und die internationalen Nachtlokale des Montmartre hinauskommen, weil sie nie Belleville betreten, nie die Arbeiter, nie die Bürgerschaft, nie die Provinz bei ihrer stillen zähen sparsamen Tätigkeit gesehen haben, so hatte man sich über Wien getäuscht. Jetzt aber war Wien herausgefordert, alles zu leisten, und wir vergeudeten nicht unsere Zeit. Wir verschwendeten nicht unsere seelischen Kräfte damit, wie drüben in Deutschland ununterbrochen die Niederlage zu leugnen und zu erklären, wir seien verraten worden und niemals besiegt. Wir sagten ehrlich: der Krieg ist zu Ende. Fangen wir von neuem an! Bauen wir Wien, bauen wir Österreich noch einmal auf!
    Und da geschah das Wunder. Drei Jahre, und alles war wiederhergestellt, fünf Jahre, und es wuchsen jene prachtvollen Gemeindehäuser auf, die ein soziales Vorbild für ganz Europa wurden. Die Galerien, die Gärten erneuerten sich, Wien wurde schöner als je. Der ganze Handel strömte wieder zurück, die Künste blühten, es entstanden neue Industrien, und bald waren wir auf hundert Gebieten voran. Wir waren leichtlebig, leichtfertig gewesen, solange wir vom alten Kapital zehrten; jetzt, da alles verloren war, kam eine Energie zutage, die uns selbst überraschte. An die Universität dieser verarmten Stadt drängten Studenten aus aller Welt; um unseren großen Meister, Sigmund Freud, den wir eben im Exil begraben haben, bildete sich eine Schule, die in Europa und Amerika alle Formen geistiger Tätigkeit beeinflußte. Während wir früher im Buchhandel von Deutschland völlig abhängig gewesen waren, entstanden jetzt in Wien große Verlagshäuser; Kommissionen kamen aus England und Amerika, um die vorbildliche soziale Fürsorge der Gemeinde Wien zu studieren, das Kunstgewerbe schuf sich durch seine Eigenart und seinen Geschmack eine dominierende Stellung. Alles war plötzlich Aktivität und Intensität. Max Reinhardt verließ Berlin und organisierte das Wiener Theater. Toscanini kam aus Mailand, Bruno Walter aus München an die Wiener Oper, und Salzburg, wo Österreich all seine künstlerischen Kräfte repräsentativ zusammenfaßte, wurde die internationale Metropole der Musik und ein Triumph ohnegleichen. Vergeblich suchten die Kunstkammern Deutschlands mit ihren unbeschränkten Mitteln in München und anderen Städten diesen begeisterten Zustrom aus allen Ländern uns abzugraben. Es gelang nicht. Denn wir wußten, wofür wir kämpften, über Nacht war noch einmal Österreich eine historische Aufgabe zugefallen: die Freiheit des deutschen Worts, das in Deutschland schon geknechtet war, noch einmal vor der Welt zu bewähren, die europäische Kultur, unser altes Erbe, zu verteidigen. Das gab dieser Stadt, der angeblich so verspielten, eine wunderbare Kraft. Es war nicht ein einzelner, der dieses Wunder der Auferstehung vollbrachte, nicht Seipel, der Katholik, nicht die Sozialdemokraten, nicht die Monarchisten; es waren alle zusammen,

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