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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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São Paulo, in einem günstigeren Klima und eingepaßt in eine europäische Organisation, leistet er genau dasselbe, wie irgendein anderer Arbeiter der Welt, aber auch in Rio de Janeiro habe ich hunderte Male beobachtet, wie bis tief in die Nacht die kleinen Schuster und Schneider noch in ihren engen Werkstätten arbeiten, und redlich bewundert, wie auf den Baustellen bei einer infernalischen Sommerhitze, wo es für einen selbst schon eine Anstrengung bedeutet, einen Hut vom Boden aufzuheben, die schwere Arbeit des Lasttragens inmitten der prallen Sonne ohne Pause weitergeht. Es ist also keineswegs die Fähigkeit, die Willigkeit und das Tempo des einzelnen, das zurückbleibt, es fehlt nur im ganzen jene europäische oder nordamerikanische Ungeduld, mittels verdoppelten Einsatzes an Arbeit im Leben doppelt rasch vorwärtszukommen – oder »hochzukommen«, wie man im deutschen Jargon sagt – es ist also eher eine seelische Minderspannung, welche die Gesamtheitsdynamik vermindert. Ein großer Teil der caboclos , besonders in den tropischen Zonen, arbeitet nicht, um zu sparen und zurückzulegen, sondern einzig, um die nächsten paar Tage zu fristen; wie immer in den Ländern, wo die Welt schön ist, die Natur alles bietet, was man zum Leben braucht, die Früchte rings um das Haus einem gleichsam in die Hand wachsen und man für keinen schlimmen Winter vorzusorgen hat, stellt sich eine gewisse Gleichgültigkeit gegen Gewinn und Sparsinn ein; man hat es nicht eilig mit dem Geld und auch nicht mit der Zeit. Warum durchaus heute dies liefern oder schaffen? Warum nicht morgen – amanhã, amanhã – warum in einer so paradiesischen Welt sich übereilen? Pünktlichkeit gilt hier höchstens insofern, als jede Vorlesung, jedes Konzert ziemlich pünktlich eine Viertel- oder halbe Stunde später anfängt als angesagt; stellt man seine Uhr richtig darauf ein, so versäumt man nichts und paßt sich selber an. Das Leben an sich ist hier wichtiger als die Zeit. Oft geschieht es – so berichtete man mir zu übereinstimmend, als daß ich es bezweifeln könnte – daß am Tage nach der Lohnauszahlung der Arbeiter einfach zwei, drei Tage ausbleibt. Er hat fleißig und flink die letzte Woche seine Pflicht getan und genug verdient, um in bescheidenster, allerbescheidenster Weise noch zwei Tage ohne Arbeit zu leben. Wozu dann diese zwei Tage noch arbeiten? Reich kann er von den paar Milreis ohnehin nicht werden, also lieber diese zwei oder drei Tage in stiller und behaglicher Weise genießen, und vielleicht muß man die Üppigkeit der Welt hier gesehen haben, um dies zu verstehen. Während in einem grauen und öden Flachland Arbeit die einzige Rettung des Menschen vor der Freudlosigkeit des Daseins ist, erweckt innerhalb einer so reichen, von Früchten überquellenden und durch Schönheit beglückenden Natur das Leben den Wunsch nicht so heftig und so wild wie bei uns, reich zu werden. Reichtum ist in der Vision des Brasilianers keineswegs mühsame Aufhäufung von gespartem Geld aus unzähligen Arbeitsstunden, nicht Resultat eines rasenden und nervenzerrüttenden Antriebs. Der Reichtum ist etwas, wovon man träumt; es soll vom Himmel kommen, und die Funktion dieses Himmels ersetzt in Brasilien die Lotterie. Das Lotto ist in Brasilien eine der wenigen sichtbaren Leidenschaften dieses äußerlich so stillen Volkes und die tagtägliche solidarische Hoffnung von Hunderttausenden und Millionen. Ununterbrochen dreht sich das Glücksrad, jeden Tag ist neue Ziehung. Wo man geht und wo man steht, in jedem Geschäft und auf der Straße, auf dem Schiff und in der Bahn werden einem Lose angeboten, und jeder Brasilianer kauft Lose mit dem, was er von seinem Wochenlohn gerade übrig hat, der Friseurgehilfe, der Schuhputzer, der Gepäckträger, der Angestellte und der Soldat. Um eine bestimmte Nachmittagsstunde sieht man dann wie eine schwarze Geschwulst dicke Ansammlungen von Menschen vor den Ziehungsstellen, in allen Häusern und Geschäften ist das Radio aufgedreht, die Erwartung einer ganzen Stadt oder vielmehr des ganzen Landes ist in diesem Augenblick auf eine einzige Ziffer und eine einzige Zahl gestellt. Die oberen Schichten wieder spielen in den Kasinos, und fast jeder Kurort, jedes vornehme Luxusetablissement hat das seine. Monte Carlo ist hier verdutzendfacht, und selten sieht man einen der Tische nicht umdrängt. Aber noch nicht genug an dem. Zu diesem aus Europa importierten Spiel, dem Lotto, dem Baccarat und dem Roulette, hat sich die

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