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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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ein kleines Haus mit ein oder höchstens zwei Stockwerken und drei bis sechs Zimmern, das nach außen ohne Prätention und ohne Zierrat sich in die Gasse einordnet und innen mit so einfachem Mobiliar eingerichtet ist, daß für Feste und Gäste kein Raum bleibt. Außer bei drei- oder vierhundert »oberen« Familien wird man im ganzen Lande kein wertvolles Bild, kein Kunstwerk auch nur von mittlerem Rang, keine wertvollen Bücher finden, nichts von der breiten Bequemlichkeit des europäischen Kleinbürgers – immer wieder ist es in Brasilien die Genügsamkeit, die einem von neuem auffällt. Da das Haus ausschließlich für die Familie bestimmt ist, versucht es nicht mit falschem Prunk und kleinen Üppigkeiten zu blenden. Mit Ausnahme des Radios und des elektrischen Lichts und allenfalls eines Badezimmers ist heute seine Einteilung nicht anders als in der Kolonialzeit der Vizekönige und auch die Lebensform in diesem Hause; in der Sitte hat manches Patriarchalische aus dem anderen Jahrhundert, das bei uns längst – man bedauert es fast – historisch geworden ist, sich noch in voller Geltung erhalten: vor allem widerstrebt hier bewußt ein traditioneller Wille der Auflockerung des Familienlebens und des väterlichen Autoritätsprinzips. Wie in den alten Provinzen Nordamerikas wirkt auch hier die strengere Auffassung der Kolonialzeit unbewußt nach; man begegnet hier noch in voller Geltung, was unsere eigenen Väter in Europa uns von der Welt ihrer Väter erzählten. Die Familie ist hier noch der Sinn des Lebens und das eigentliche Kraftzentrum, von dem alles ausgeht und zu dem alles zurückführt. Man lebt und man hält zusammen; wochentags im engeren Kreise, versammelt man sonntags den weiteren Kreis der Verwandten; gemeinsam wird der Beruf, das Studium des einzelnen bestimmt. In der Familie wiederum ist der Vater, der Mann noch unbeschränkter Herr über die Seinen. Er hat alle Rechte und Vorrechte, kann Gehorsam als selbstverständlich voraussetzen, und es ist besonders in den ländlichen Kreisen noch wie einst bei uns in früheren Jahrhunderten der Brauch, daß die Kinder dem Vater die Hand küssen als Zeichen des Respekts. Die männliche Superiorität und Autorität sind noch unbestritten und dem Manne vieles verstattet, was der Frau versagt ist, die, wenn auch nicht mehr so streng gehalten wie noch vor wenigen Jahrzehnten, im wesentlichen auf den inneren Wirkungskreis im Haus beschränkt ist. Die bürgerliche Frau betritt hier fast nie allein die Straße, und selbst von einer Freundin begleitet wäre es unzulässig, wenn sie nach Einbruch der Dämmerung ohne ihren Gatten außer dem Hause gesehen würde. Darum sind abends, ähnlich wie in Spanien oder Italien, die Städte eigentlich nurmehr Männerstädte; die Männer sind es, die die Cafés überfüllen, auf den Boulevards promenieren, und es wäre selbst in den Großstädten kaum denkbar, daß Frauen oder Mädchen abends ohne Begleitung des Vaters oder Bruders in ein Kino gingen. Emanzipationsbestrebungen oder Frauenrechtlerei haben hier noch keinen Boden gefunden, selbst die berufstätigen Frauen, die hier noch in verschwindender Minorität gegen die an Haus und Familie gebundenen stehen, bewahren die traditionelle Zurückhaltung. Noch eingeschränkter ist selbstverständlich die Stellung der jungen Mädchen. Freundschaftlicher Verkehr mit jungen Leuten auch naivster Art, sofern er nicht deutlich von Anfang an sich mit Heiratsabsichten verbindet, ist selbst heute noch nicht üblich, und das Wort flirt läßt sich nicht ins Brasilianische übersetzen. Im allgemeinen heiratet man, um alle Komplikationen zu vermeiden, außerordentlich früh, die Mädchen aus den bürgerlichen Kreisen meist mit siebzehn, mit achtzehn Jahren, wenn nicht schon vordem. Baldiger sowie reichlicher Kindersegen ist hier noch erwünscht und nicht gefürchtet. Frau, Haus, Familie sind hier noch innig verbunden, außer bei wohltätigen Veranstaltungen treten die Frauen selbst bei festlichen oder repräsentativen Anlässen niemals in den Vordergrund und – mit Ausnahme der Geliebten Dom Pedros I., der Marquise von Santos – haben sie im politischen Leben niemals eine Rolle gespielt. Amerikaner und Europäer mögen dies hochmütig als rückständig empfinden, aber diese unzähligen Familien, die still und ohne jede Vordringlichkeit in ihren kleinen Häusern zufrieden leben, bilden durch ihre gesunde, normale Existenzform das eigentliche Kraftreservoir der Nation. Aus dieser mittleren

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