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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Amazonas, die seringueiros in den Wäldern, die vaqueiros auf den großen Weideflächen, die Indios in ihrem oft unzugänglichen Dickicht sind nirgends zu großen übersichtlichen Siedlungen vereinigt, und der Fremde (und auch der einheimische Großstädter) weiß eigentlich wenig von ihrer Existenz. Er weiß nur dunkel, daß irgendwo diese Millionen sind, und daß sowohl der Bedarf als auch das Einkommen dieser untersten, fast durchweg farbigen Masse sich an der untersten Grenze des Lebensniveaus knapp an dem Nullpunkt bewegt. Seit hunderten Jahren hat sich die Lebenshaltung dieser vielfach gemischten Abkömmlinge der Indios und Sklaven weder verändert noch verbessert, und wenig von den Leistungen und Fortschritten der Technik ihr Leben überhaupt erreicht. Die Wohnung schaffen sich die meisten selbst, eine Hütte oder ein kleines Haus aus Bambusrohr, mit Lehm beworfen und mit Schilf gedeckt, das sie sich mit eigener Hand irgendwo erbauen. Gläserne Fenster sind schon ein Luxus, ein Spiegel oder sonst ein Einrichtungsgegenstand außer Bett und Tisch in diesen Wohnhütten des inneren Landes eine Seltenheit. Für diese selbstgebaute Hütte bezahlt man allerdings keine Miete; außer in den Städten stellt Grund und Boden einen solchen non-valeur dar, daß niemand sich die Mühe nehmen würde, für ein paar Quadratmeter Entgelt zu verlangen. An Kleidung erfordert das Klima nicht mehr als eine Leinenhose, ein Hemd und einen Rock. Die Banane, der Mandioca, die Ananas, die Kokosnuß geben sich von Baum und Strauch umsonst, ein paar Hühner finden sich leicht dazu und allenfalls noch ein Schwein. Damit sind die Hauptbedürfnisse des Lebens gedeckt, und welche geregelte oder gelegentliche Tätigkeit dieser Arbeiter denn verrichtet, immer bleibt ihm noch etwas für die Zigarette und die anderen kleinen – allerdings winzig kleinen – Notwendigkeiten seiner Existenz. Daß die Lebensverhältnisse dieser Unterklasse, besonders im Norden, unserer Zeit nicht mehr entsprechen, daß bei der geradezu endemischen Armut ganzer Landstriche die Bevölkerung durch Unterernährung geschwächt und zu einer normalen Leistung nicht fähig ist, wissen die oberen Stellen längst selbst, und ununterbrochen werden Maßnahmen erwogen und angeordnet, dieser im wahrsten Sinne nackten Armut zu steuern. Aber in dieses von Bahnen und Straßen gleich abgelegene Hinterland, in die Wälder von Mato Grosso und Acre können die von der Regierung Getúlio Vargas festgelegten Minimallohnsätze als Norm noch nicht vordringen, Millionen Menschen sind weder im Sinne einer regulierten, organisierten, kontrollierten Arbeit, noch in dem der Zivilisation überhaupt erfaßt, und es wird Jahre und Jahrzehnte dauern, ehe sie dem nationalen Leben tätig eingeordnet werden können. Wie alle Kräfte seiner Natur, so hat Brasilien auch diese weite und dunkle Masse weder als Produzent noch als Konsument von Gütern bisher ausgewertet. Auch sie stellt eine der ungeheuren Reserven der Zukunft, eine der vielen noch nicht in Leistung umgesetzten potentiellen Energien dieses erstaunlichen Landes dar.
    Über dieser im Dunkel verstreuten und amorphen Masse, die – großenteils analphabetisch und in ihrem Lebensstandard nahe dem absoluten Tiefpunkt – bisher wenig oder eigentlich gar nichts zur Kultur beitragen konnte, erhebt sich, stark aufstrebend und ständig in ihrem Einfluß wachsend, die kleinbürgerliche, die ländliche Mittelklasse: die Angestellten, die kleinen Unternehmer, die Geschäftsleute, die Handwerker, die vielfältigen Berufe der Städte und der Fazendas. In dieser durchaus rationalen Schicht prägt sich am deutlichsten die bestimmte und bewußte brasilianische Eigenheit in einem unverkennbar persönlichen Lebensstile aus – einem Lebensstil, der viel der alten kolonialen Tradition nicht nur bewußt aufrechterhält, sondern auch schon schöpferisch weiterbildet. Es ist nicht leicht, in ihre Existenz hineinzublicken, denn in der äußeren Haltung fehlt jede Ostentation, diese Klasse lebt völlig einfach und unauffällig und fast möchte ich sagen, lautlos, weil drei Viertel der Existenz sich ganz in unserem alten europäischen Stil im Familienkreis erfüllt. Ein eigenes Haus bildet – außer in Rio de Janeiro und São Paulo, wo in unseren Tagen die vielstöckigen Häuser eigentlich zum erstenmal den Typus der Mietswohnung eingeführt haben – die unauffällige Schale, die den eigentlichen Kern des Daseins, den Familienkreis umschließt. Es ist fast immer

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