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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Schicht, die trotz ihrer konservativen Lebenshaltung bildungseifrig und fortschrittsfreundlich gesinnt ist; aus diesem festen und gesunden Humus stammt heute jene Generation, die die Führung des Landes mit den alten und aristokratischen Familien zu teilen beginnt, und in gewissem Sinne ist Vargas, der selbst vom Lande und aus dem Mittelstand stammt, der sinnfälligste Ausdruck dieser neuen, stark und energisch aufstrebenden und doch gleichzeitig bewußt traditionellen Generation.
    Über dieser, das ganze Land schon durchdringenden und sich ständig in ihrem Einfluß steigernden Klasse, die das neue Brasilien repräsentiert, steht – oder besser gesagt, besteht unentwegt die alte und bedeutend kleinere, die man die aristokratische nennen möchte, wenn in diesem neuen und durchaus demokratischen Lande dieses Wort nicht irreführend wirken würde. Denn, teilweise noch aus der Kolonialzeit stammend, teilweise erst mit König João aus Portugal herübergekommen, hatten diese vielfach untereinander verschwägerten – manchmal geadelten, manchmal ungeadelten – Familien nicht eigentlich Zeit, zu einer aristokratischen Kaste zu erstarren; ihre Gemeinsamkeit bestand einzig in der Lebenshaltung und der schon seit Generationen hochentwickelten geistigen Kultur. Vielgereist in Europa oder von europäischen Lehrern und Gouvernanten herangebildet, zum großen Teil reich begütert oder in hohen Regierungsfunktionen, haben sie seit dem Beginn des ersten Kaiserreichs den geistigen Zusammenhang mit Europa ständig bewahrt und ihren Ehrgeiz daran gesetzt, Brasilien vor der Welt im Sinne kultivierter und fortschrittlicher Wesensart zu repräsentieren. Aus diesen Kreisen stammt die Generation jener großen Staatsmänner wie Rio Branco, Rui Barbosa, Joaquim Nabuco, die auf das glücklichste verstanden, innerhalb der einzigen Monarchie Amerikas den nordamerikanisch-demokratischen Idealismus mit dem europäischen Liberalismus zu verbinden und jene Methode der Konzilianz, der Schiedsgerichte und Verträge, die für die brasilianische Politik so ehrenvoll ist, auf eine stille und beharrliche Weise durchzusetzen.
    Noch heute ist die Diplomatie fast ausschließlich diesen Kreisen vorbehalten, während der Verwaltungsdienst und das Militär schon mehr in die Hände der jungen, aufsteigenden Bürgerklasse überzugehen beginnen. Aber ihr kultureller Einfluß auf das allgemeine Repräsentationsniveau ist noch immer wohltätig fühlbar. Auch in ihrer Lebenshaltung fehlt jede Ostentation. In schönen Häusern mit alten, wundervollen Gärten wohnend, die sich aber keineswegs als Paläste markieren, meist in den früher exklusiven Teilen der Stadt, in Tijuca und Laranjeiras oder der Rua Paissandú halten sie in der Wohnkultur am Traditionellen fest, Sammler von allen historischen Kunstwerten ihres Landes, und stellen in ihrer gleichzeitigen nationalen Gebundenheit und geistigen Universalität einen Typus höchster Zivilisation vor, wie er in den anderen südamerikanischen Ländern fast völlig fehlt, und der stark an den österreichischen erinnert in seiner Kunstfreundlichkeit und geistigen Liberalität. Noch sind diese alten Familien – alt meint hier schon hundert Jahre – in ihrer kulturellen Vorherrschaft nicht verdrängt durch eine neue Aristokratie des Reichtums, weil sie großenteils selbst vermögend sind und hier die Unterschiede viel unmerklicher als bei uns ineinanderfließen. Das Brasilianische kennt nicht das Exklusive – dies seine eigentliche Kraft – und wie in der rassenmäßigen, so ist auch in der sozialen Schichtung der Assimilationsprozeß ein ständiger. Alle Tradition, alle Vergangenheit ist hier zu kurzfristig, als daß sie sich nicht willig und leicht in die neuen und erst werdenden Formen des Brasilianischen auflöste.
    Auf diesen beiden Gruppen ruht, da die unterste Masse durch Analphabetismus und räumliche Isolierung an der Herausformung einer typisch brasilianischen Kultur noch nicht teilnimmt, sowohl im produktiven als auch im aufnehmenden Sinne der ganze individuelle Anteil Brasiliens an der Weltkultur. Um diese spezifische Leistung gerecht einzuschätzen, darf nicht vergessen werden, daß das ganze geistige Leben dieser Nation kaum viel mehr als hundert Jahre umfaßt und daß in den dreihundert kolonialen Jahren vordem jede Form des kulturellen Auftriebs systematisch unterdrückt worden war. Bis 1800 ist in diesem Land, das keine Zeitung und kein literarisches Werk drucken darf, das Buch eine Kostbarkeit, eine

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