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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Rarität und außerdem meist eine Überflüssigkeit, denn man schätzt eher zu hoch als zu tief, wenn man annimmt, daß um 1800 unter hundert Menschen neunundneunzig Analphabeten einem einzigen gegenüberstanden, der lesen und schreiben konnte. Zuerst waren es noch die Jesuiten, die in ihren Colégios den Unterricht besorgten, bei dem sie selbstverständlich die Unterweisung in der Religion jeder Form der universellen und zeitgenössischen Bildung voranstellten. Mit ihrer Austreibung 1765 entsteht ein völliges Vakuum im öffentlichen Unterricht. Weder Staat noch Stadt denken daran, Schulen einzurichten. Eine besondere Steuer auf Lebensmittel und Getränke, die 1772 der Marquis de Pombal anordnet, um von diesem Ertrage Elementarschulen zu eröffnen, bleibt bloßes papiernes Dekret. Mit dem flüchtenden portugiesischen Hofe kommt 1808 die erste wirkliche Bibliothek ins Land, und um nach außen hin seiner Residenzstadt einen gewissen kulturellen Glanz zu geben, läßt der König Gelehrte herüberkommen und gründet Akademien und eine Kunstschule. Aber damit ist nicht viel mehr als eine dünngestrichene Fassade geschaffen; noch immer geschieht nichts Großzügiges, um systematisch die großen Massen in das doch recht bescheidene Geheimnis des Lesens, Schreibens und Rechnens einzuführen. Erst unter dem Kaiserreich beginnt man 1823 herumzuprojektieren, daß cada villa ou cidade tenha uma escola pública, cada província um liceu, e que se estabeleçam universidades nos mais apropriados locais . Aber es dauert noch vier Jahre, bis 1827 gesetzlich wenigstens die Minimalforderung festgelegt wird, in jeder größeren Ortschaft müsse eine Elementarschule vorhanden sein. Damit ist endlich der prinzipielle Ansatz zu einem Fortschritt gemacht, der jedoch nur im Schneckentempo fortschreitet. 1872 errechnet man, daß bei einer Bevölkerung von über zehn Millionen im ganzen nur 139.000 Kinder die Schule besuchen, und selbst in unseren Tagen, 1938, sah sich die Regierung noch vor die Notwendigkeit gestellt, ein eigenes Initiativkommittee zu gründen zwecks der endgültigen Ausrottung des Analphabetismus.
    Der ersehnten Blüte einer eigenen Dichtung und Literatur fehlte also jahrhundertelang der richtige Humus, in dem sie zu wirklichem Wachstum gelangen konnte: das einheimische Publikum. Verse zu schreiben, Bücher zu verfassen bedeutete für einen Brasilianer bis knapp in unsere Zeit einen materiell aussichtslosen und wirklich heroischen Opferdienst an das dichterische Ideal, denn sie alle schufen und sprachen, sofern sie nicht dem Journalismus oder der Politik sich dienstbar machten, völlig ins Leere. Die großen Massen vermochten ihre Bücher nicht zu lesen, weil sie überhaupt nicht lesen konnten, und die obere dünne intellektuelle Schicht, die aristokratische, hielt es für wenig wichtig, ein brasilianisches Buch zu bestellen, und bezog ihre Lektüre an Romanen und Versen fast ausschließlich aus Paris. Erst in den letzten Jahrzehnten ist durch den Zustrom kulturgewohnter und darum kulturbedürftiger Elemente, durch die enorme Ausweitung der Bildung in der aufsteigenden Mittelklasse hier Wandel geschaffen worden, und mit der ganzen Ungeduld, wie sie nur lang zurückgehaltene Nationen haben, dringt die brasilianische Literatur in die Weltliteratur vor. Das Interesse an geistiger Produktion ist hier erstaunlich. Buchladen entsteht neben Buchladen, in Druck und Ausstattung verbessert sich die Herstellung ständig, belletristische und auch wissenschaftliche Werke können schon Auflageziffern erreichen, die vor einem Jahrzehnt noch als traumhaft gegolten, und schon beginnt die brasilianische Produktion die portugiesische zu überflügeln. Mehr als bei uns, wo der Sport und die Politik in gleich verhängnisvoller Weise die Aufmerksamkeit der Jugend ablenkt, steht die geistige und künstlerische Produktion im Mittelpunkt des Interesses der ganzen Nation.
    Denn der Brasilianer ist an sich durchaus geistig interessiert. Beweglichen Intellekts, rasch in der Auffassung und von Natur aus gesprächig, hat er als Portugiesenenkel die natürliche Freude an schönen sprachlichen Formen, die sich hier in Brief und Umgang in besonderen Höflichkeiten bewegen und im Rednerischen gern zum Überschwang neigen. Er liebt zu lesen; selten sieht man den Arbeiter, den Straßenbahnschaffner in einer freien Minute ohne eine Zeitung in der Hand, selten einen jungen Studenten ohne ein Buch. Dieser ganzen neuen Generation ist Schrift und Literatur nicht

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