Stefan Zweig - Gesammelte Werke
wie dem Europäer schon eine jahrhundertealte Selbstverständlichkeit, ein überliefertes Erbe, sondern etwas selbst Errungenes, und sie finden noch einen Stolz und eine Freude darin, sich selbst und die ganze Weltliteratur zu entdecken. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, daß in diesen südamerikanischen Ländern mehr als in allen andern noch eine gewisse Ehrfurcht vor der geistigen Leistung besteht, und daß das zeitgenössische – auch dank der Billigkeit der Ausgaben – rascher und weiter sich in das Volk verbreitet wie bei den traditionsgebundenen Nationen. Durch die eingeborene Neigung des Brasilianers zu zarteren Formen hat die Poesie lange den Vorrang in der nationalen Literatur gehabt; mit den epischen Gedichten »Uruguai« und »Marília« beginnt die brasilianische Kultur des Verses, die wirklich hervorragende Persönlichkeiten zeitigt. Ein Lyriker kann hier noch wirklich populär werden. In allen Parks findet man wie im Parc Monceau und Luxembourg in Paris die Statuen der nationalen Dichter aufgestellt, und sogar einem lebenden, Catulo da Paixão Cearense, hat die Bevölkerung – oder vielmehr das wirkliche Volk durch gemeinsame Sammlung von kleinen Silbermünzen – diese rührende Huldigung erwiesen. Noch ehrt, als eines der letzten, dieses Land das Gedicht, und die brasilianische Akademie versammelt heute eine stattliche Anzahl von Poeten, die der Sprache neue und persönliche Nuancen gegeben.
Länger dauert die Emanzipation von den europäischen Vorbildern in der Prosa, im Roman und in der Novelle. Selbst die Entdeckung des »guten Indios« in dem »Guarani« von José de Alencar war eigentlich nur ein Rückimport ausländischer Vorbilder wie Chateaubriands »Atala« oder Fenimore Coopers »Lederstrumpf«; bloß die äußere Thematik in seinen Romanen, nur ihr historisches Kolorit ist brasilianisch, nicht aber die seelische Einstellung; die künstlerische Atmosphäre.
Erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts tritt mit zwei wahrhaft repräsentativen Gestalten, mit Machado de Assis und Euclides da Cunha Brasilien in die Aula der Weltliteratur ein. Machado de Assis bedeutet für Brasilien, was Dickens für England und Alphonse Daudet für Frankreich. Er hat die Fähigkeit, lebendige Typen, die sein Land, sein Volk charakterisieren, lebendig zu erfassen, ist ein geborener Erzähler, und die Mischung von leisem Humor und überlegener Skepsis gibt jedem seiner Romane einen besonderen Reiz. Mit seinem »Dom Casmurro«, dem populärsten seiner Meisterwerke, hat er eine Figur geschaffen, die für sein Land so unsterblich ist wie David Copperfield für England und Tartarin de Tarascon für Frankreich; dank der durchsichtigen Sauberkeit seiner Prosa, seinem klaren und menschlichen Blick stellt er sich den besten europäischen Erzählern seiner Zeit zur Seite.
Im Gegensatz zu Machado de Assis war Euclides da Cunha kein Schriftsteller von Profession; sein großes nationales Epos, die »Sertões«, ist gleichsam durch einen Zufall entstanden. Euclides da Cunha, seinem Beruf nach Ingenieur, hatte als Vertreter der Zeitung »Estado de São Paulo« eine der militärischen Expeditionen gegen die Canudos, eine aufständische Sekte in dem wilden und düsteren Gebiet des Nordens begleitet. Der Bericht über die Expedition, mit prachtvoller dramatischer Kraft gestaltet, wuchs sich in Buchform zu einer umfassenden psychologischen Darstellung der brasilianischen Erde, des Volkes, des Landes aus, wie sie seitdem mit ähnlichem Tiefblick und soziologischer Weitsicht nie mehr versucht und nie mehr erreicht worden ist. Vergleichbar in der Weltliteratur noch am ehesten den »Sieben Säulen der Weisheit«, in denen Lawrence den Kampf in der Wüste schildert, ist dieses im Ausland wenig bekannte großartige Epos bestimmt, unzählige heute berühmte Bücher zu überdauern durch die dramatische Großartigkeit seiner Darstellung, seinen Reichtum an geistigen Erkenntnissen und die wunderbare Humanität, die das Werk erfüllt. Wenn die brasilianische Literatur heute in ihren Romanschriftstellern und Dichtern an Subtilität, an sprachlicher Nuancierung im einzelnen ungeheure Fortschritte gemacht hat, so hat sie doch mit keinem Werke mehr diesen überragenden Gipfel erreicht.
Schwach dagegen ist vorläufig noch die dramatische Kunst entwickelt. Hier ist kein Name eines Dramas mir als wirklich bemerkenswert genannt worden, und auch im öffentlichen und geselligen Leben spielt die theatralische Kunst kaum eine
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