Stehaufmädchen: Wie ich mich nach dem Attentat meines Stiefvaters zur Boxweltmeisterschaft zurückkämpfe (German Edition)
die öffentlich in den Ring stieg, aber noch nicht zu einem Kampf, sondern zunächst einmal zu einem Sparring. In den USA wurde Frauenboxen erst Anfang der 1990er-Jahre beliebt, in Kalifornien, also eine halbe Welt entfernt von Ulm. Hier in Deutschland war zur selben Zeit gerade Henry Maske erfolgreich und holte als »Gentleman« den Boxsport aus der Schmuddelecke. Endlich bekam dieser Sport ein neues Image, aber Frauenboxen fand einfach noch nicht statt. Der erste öffentliche Frauenboxkampf wurde erst 1994 in Hamburg veranstaltet, in demselben Jahr, in dem ich mit meinem Vater bei Tommy im Gym erschienen war. Weltweit sträubten sich die Boxverbände, Frauen aufzunehmen oder gar kämpfen zu lassen. Training für Mädchen und Frauen – komplette Fehlanzeige.
»Das ist doch nichts für Rola«, sagte Tommy zu meinem Vater, »ich kenn sie doch, sie heult doch nur rum.« Mein Vater aber blieb hartnäckig: »Lass sie doch einfach mitmachen. Kümmer dich nicht um sie, lass sie einfach nur dabei sein.« Mein Vater stärkte mir den Rücken und ließ sich nicht abweisen. So war er, er stand immer voll hinter uns.
Ich fand es zur Überraschung aller, auch zu meiner eigenen, großartig. Es war der erste und bisher auch der einzige Sport, der mir wirklich Spaß machte. Da wollte ich bleiben. Das lag auch daran, dass ich im Training nicht wie ein Kind behandelt wurde, sondern gleichwertig wie alle anderen auch. Tommy hatte mit Kindern im Training keinerlei Erfahrungen, und es war ja auch kein Kindertraining. Niemand wurde in diesem Training bevorzugt und niemand runtergemacht. Wenn es hieß: »20 Liegestütze!«, dann mussten alle 20 Liegestütze machen, egal, ob kleines Mädchen oder Bodybuilder. Ich habe auch genossen, dass im Training keine anderen Kinder waren, die mich hätten auslachen können, wenn ich eine Übung nicht schaffte oder nicht mit den anderen mithalten konnte. Erwachsene machen das eben nicht. Ich war im Gym wie eine von den Erwachsenen, musste dasselbe Programm durchziehen wie die Männer, ich, ein kleines Mädchen von damals neun Jahren. Dass ich dabei auch meine Kindheit aufgab, habe ich erst jetzt verstanden. Heute kann ich sagen: Ich hatte keine richtige Kindheit. Damals fand ich es großartig, im Training wie eine Erwachsene behandelt zu werden.
Das Training war hart und vielseitig. Es gab etwas für die Kondition, etwas für die Muskeln, für die allgemeine Fitness und natürlich das eigentliche Kampftraining. Beim Thaiboxen setzt der Kämpfer nicht nur die Hände, sondern auch die Beine ein, und es geht richtig zur Sache, daher muss man rundum fit und auch sehr beweglich sein.
Zum Aufwärmen gab es Seilspringen, Liegestütze, Sit-ups, Kniebeugen und Schattenboxen. Schläge übten wir auf Pratzen, diese dicken Polster, die sich ein Trainer oder Trainingspartner über die Hand zieht und auf die man daher hart schlagen kann, ohne dass sich das Gegenüber verletzt.
Tommys Training war natürlich auf Freizeitsportler ausgerichtet, denn er trainierte zu dieser Zeit keine Wettkämpfer. Aber er merkte wohl bald, dass das schüchterne kleine Mädchen etwas ganz Besonderes war. Ich blieb dran, meckerte nie und heulte erst recht nicht. So taute Tommy langsam auf und erkannte schließlich auch mein Talent. Nicht, dass er mich dann bevorzugt hätte, im Gegenteil, das Training wurde härter, und er wollte testen, wie weit ich gehen würde. Ich habe noch ein Video, auf dem zu sehen ist, wie Tommy mich als etwa Zehnjährige durch die Gegend prügelt, richtig hart. Er wollte sehen, ob er mich brechen könnte, ob ich nicht doch irgendwann anfangen würde zu heulen. Auf dem Video ist ganz deutlich zu sehen, wie ich kurz davor bin, zu schreien oder aufzugeben, aber ich tue es nicht, sondern sage mit meiner trotzigen Kinderstimme: »Ha, irgendwann zeige ich das hier dem Jugendamt. Pah!« Darüber kann ich heute noch lachen.
Dass ich im Training ein Mädchen unter lauter Männern war, tat mir einerseits gut, andererseits musste ich aber besonders hart trainieren. Was für die anderen Freizeitspaß war, war für mich Ernst. Ich war immer aufmerksam, extrem hart zu mir selbst, habe nie Quatsch gemacht, denn ich musste ja auch gegen das Vorurteil antreten, dass Mädchen in diesem harten Männersport nichts verloren haben und nichts leisten können.
Als Tommy und auch mein Vater merkten, dass ich, die Kleine, am Training dranblieb, waren sie richtig stolz auf mich. Tommy ahnte auch schnell, dass man aus mir als
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