Stehaufmädchen: Wie ich mich nach dem Attentat meines Stiefvaters zur Boxweltmeisterschaft zurückkämpfe (German Edition)
ich damals nie das Gefühl, dass mir etwas fehlte. Mir ist es wichtig, das zu sagen – denn es wäre ungerecht zu behaupten, dass alles schlimm war. Im Gegenteil, es war eine schöne Zeit.
Aber da gab es eben immer auch die dunkle Seite meines Vaters. Die unkontrollierbaren Ausbrüche. Das ewige Misstrauen. Wenn irgendetwas, was wir taten oder sagten, nicht genau seinen Vorstellungen entsprach, konnte er sich von einem Moment zum nächsten in einen anderen Menschen verwandeln und völlig die Fassung verlieren. Wenn wir ausnahmsweise nicht nach seiner Pfeife tanzten, fühlte er sich provoziert und hintergangen und ließ uns dann spüren, dass wir mit unserem Verhalten den Familienfrieden störten. Jenen Frieden, jene Harmonie und Ruhe, die er sich für uns als Familie vorstellte, mit ihm an der Spitze, der alle Entscheidungen traf und uns genau vorgab, was wir zu tun hatten.
Seiner Meinung nach waren draußen in der Welt alle Männer Schweine und alle Frauen Schlampen. Daher schottete er uns ab. Wir als Familie sollten nicht so sein wie die anderen. Bei uns sollte es das alles nicht geben. Er war der Überzeugung, dass eine Frau, die zu viele Freiheiten hat, zur Schlampe würde; was auch immer seine Definition dafür war. Wieder und wieder bläute er uns das ein. Er sagte, er wisse, was da in der Welt vor sich ginge, und er wollte uns das alles ersparen. Uns sollte nicht dasselbe passieren wie den anderen Menschen da draußen. Die Enttäuschungen, die Schmerzen, die Demütigungen. Tief in seinem Herzen war er dadurch ein einsamer Mann, denn er wertete andere Menschen pauschal ab. Niemand war wirklich gut genug für ihn, niemand konnte seinen Idealen von Ehre, Aufrichtigkeit, Gehorsam und Harmonie entsprechen. Papa war und ist ein Mann der Extreme – was sich auch darin zeigt, dass sein einziger richtiger Freund ein Zuhälter war, trotz all seiner Ansprüche an andere. Mein Vater war extrem großzügig, auch verzeihend, liebevoll, aber in seiner Ablehnung genauso grenzenlos. Das bekamen wir regelmäßig zu spüren. Schon eine Kleinigkeit konnte ihn in jemanden verwandeln, der uns plötzlich fremd war.
Heulen
Ich bin Rola, die heult. Ich liege auf dem Boden, und über mir steht mein Vater, ein gigantischer Mann, 100 Kilogramm schwer, mit einer Hand, so riesig, dass es ganz dunkel wird, wenn sie auf mich zusaust. Eine Hand, die mein ganzes Gesicht abdeckt, in dem Moment, bevor sie trifft. Ja, auch mein zweiter Vater schlägt zu. Nicht oft, aber unkontrolliert, wenn er einen dieser Ausraster hat. Diese wahnsinnigen Wutanfälle, in denen er sich nicht mehr im Griff hat, in denen er einem fünf- oder sechsjährigen Kind eine Ohrfeige verpasst. An jede einzelne von ihnen kann ich mich erinnern, jede ist als Bild in meinem Kopf eingebrannt, taucht aus der Erinnerung auf wie ein Dia. Klack. Er schlägt nicht oft zu, aber wenn, dann mit einer Wucht, die von ganz tief aus seinem dunklen Inneren kommt. Dann kennt er keine Scheu und keine Vernunft, dann dreht er einfach durch.
Klack, klack. Die Bilder kommen eines nach dem anderen. Hier ist eines, da geht er mit einem Samurai-Schwert auf mich los. Er hat mich als 20-Jährige dabei erwischt, wie ich eine E-Mail an einen Austauschschüler schrieb, obwohl er es verboten hatte. Also denkt er, ich hintergehe ihn, dreht durch, nimmt das Schwert von der Wand, das da als Deko hängt, und geht mit der blanken Klinge auf mich los. Geschrei. Angst. Wut. Später entschuldigt er sich, meint aber, ich sei doch selbst schuld, wenn ich ihn immer in solche Situationen brächte. Er wolle das doch gar nicht. Natürlich weiß er, dass er mir unrecht tut. Dass es da einen Fehler gibt in seiner Gefühlssoftware. Aber er gibt uns die Schuld daran, wenn der Fehler im Programm anläuft und alles außer Kontrolle gerät. Er sagt: »Ihr wisst doch gar nicht, wie es mir dabei geht!« Er versteht nicht, dass er nicht das Opfer ist, sondern der Täter. Ein knallharter, brutaler Schläger.
Meine Schwester liegt auf dem Boden und weint. Klack. Unser Vater schlägt nicht nur mich, er schlägt uns alle. Meine Mutter, meine kleine Schwester. Nur mein kleiner Bruder kommt davon, aber auch ihm prägen sich die Bilder ein. Wie mein Vater uns Frauen auf den Boden prügelt. Denn dieser übermächtige Mann schlägt nie auf den Po, sondern immer ins Gesicht, mit dieser riesigen Hand und dieser Bärenkraft.
Er versteht einfach nicht. Dass wir Kinder ihn lieben. Dass wir ihn nicht hintergehen. Dass wir einfach
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