Stehaufmädchen: Wie ich mich nach dem Attentat meines Stiefvaters zur Boxweltmeisterschaft zurückkämpfe (German Edition)
erfand ich diese Geschichten.
Eines Tages aber holte mich meine Mutter von der Schule ab und sah, wie es mir erging. Sie wartete sonst immer auf dem Parkplatz auf mich, aber an diesem Tag war sie früher als sonst da und kam bis in den Schulhof. Wie immer war ich das Opfer. Als ich aus dem Schulhaus kam, nahmen mir die Jungs meine Schultasche und meinen Turnbeutel weg und begannen, sie auf dem Boden hin und her zu kicken. Ich musste dann von einem zum anderen rennen und betteln, dass sie mir meine Sachen wiedergaben. Meine Mama sah an diesem Tag zum ersten Mal, wie sie mit mir umsprangen.
Da nahm sie sich die beiden Jungs zur Brust. So impulsiv und wütend hatte ich meine Mama bisher nicht gekannt. Sie machte die Jungs so zur Schnecke, dass die total verschreckt waren. Und für kurze Zeit hielten sie sich danach tatsächlich zurück, aber auf die Dauer half es natürlich wenig. Ich war und blieb ein ängstliches, sensibles Kind.
Leiden
Ich bin Rola, die leidet. Mein Vater, mein leiblicher Vater, schlägt meine Mutter, und ich schreie, hilflos, entsetzt. Ich stehe neben ihr. Ich kann sein Gesicht sehen. Es ist eine Fratze. Dieses Gesicht werde ich nie wieder vergessen. Bis heute kann ich mich an jedes Detail, an jedes Härchen darauf erinnern. Der tobende Mann, wie er meine Mutter schlägt, dieses wütende Gesicht. Das Bild ist in mein Gedächtnis eingebrannt. Es ist die einzige Erinnerung, die ich an meinen leiblichen Vater habe. Unter Tausenden Menschen würde ich ihn erkennen. Nur aus der einen einzigen Erinnerung heraus, wie er dasteht und auf meine Mama einprügelt.
Der Weg zum Sport
Nicht, dass mein zweiter Vater, mein Adoptivvater, viel anders gewesen wäre, denn auch er konnte ausrasten. Aber er wollte auch, dass ich, Rola, das kleine Mädchen, mich gegen andere wehren konnte. Dass ich mir nichts gefallen lassen musste von den Jungs. Dass ich sogar zurückschlagen konnte, wenn sie auf mich losgingen.
An dem Tag, an dem meine Mutter sah, wie ich gehänselt und gemobbt wurde, beschlossen meine Eltern, dass sich etwas ändern musste. Sie wollten es mit Sport probieren. Meine jüngere Schwester ging bereits zum Turnen, also bot man mir auch erst einmal die typischen »Mädchensportarten« an: Schwimmen, Reiten, Tanzen, Turnen. Es sollte natürlich ein Sport sein, der zu einem Sensibelchen wie mir passte.
Aber es passte nichts. Ich ging jeweils nur ein paar Mal zu den Probestunden und sagte dann, dass es mir keinen Spaß machte und ich keine Lust mehr hätte, da mitzumachen. Mein Vater ging damals als Hobby zum Thaiboxen ins Mekong Box Gym hier in Ulm. Vielleicht war es mehr Spaß als Ernst, als er eines Tages zu mir sagte: »Komm, probieren wir das mal aus.« Ich war da schon acht Jahre alt und in der dritten Klasse, doch meine Situation in der Schule war immer noch die Gleiche. Alle anderen Sportarten, die ich ausprobiert hatte, hatten rein gar nichts gebracht. Meine kleine Schwester war schon richtig gut im Turnen, aber ich hatte meinen Sport immer noch nicht gefunden. Die weichen Sportarten waren einfach alle nichts für mich. Das lag unter anderem daran, dass die älteren Kinder mich auch beim Sport auslachten und runtermachten, wenn ich etwas nicht so gut konnte.
Ins Box Gym ging ich mit wie zu all den anderen Probestunden, einfach nur, um es einmal ausprobiert zu haben. Kein Mensch hätte geglaubt, dass ich dabeibleiben würde. Niemand hätte im Traum daran gedacht, dass ich eines Tages Weltmeisterin sein könnte.
Im Gym trafen wir Thomas Wiedemann – er ist bis heute einer meiner Trainer. Tommy war nicht gerade begeistert darüber, dass mein Vater ein kleines Mädchen mit ins Gym brachte. »Spinnst du jetzt!?«, begrüßte er uns, als mein Vater mich zum ersten Training vorstellte. Da er mit meinem Vater befreundet war, kannte er mich schüchternes kleines Mädel bereits. Ich war eine, die sich hinter ihrem Papa versteckte. Tommy sagte daher auch prompt: »Nein, das mache ich nicht. Das will ich nicht. Sie kann hier nicht trainieren.«
Damals gab es im Mekong Box Gym kein Boxtraining für Frauen, und das Thaiboxtraining wurde nur für Männer über 18 Jahren angeboten. Frauenboxen ist in Deutschland ja überhaupt erst seit 1985, meinem Geburtsjahr, erlaubt – vorher war es verboten, weil man dachte, es sei schädlich für Frauen, wenn sie Treffer im Brustbereich kassieren. Auch in den USA durften Frauen offiziell erst seit 1977 boxen. Birgit Nuako war 1986 die erste deutsche Amateurboxerin,
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