Stehaufmädchen: Wie ich mich nach dem Attentat meines Stiefvaters zur Boxweltmeisterschaft zurückkämpfe (German Edition)
Athletin etwas machen konnte. Und ich, die ich mich im Training mit den Männern gegen deren Vorurteile und meine eigene Schüchternheit durchsetzen musste, hatte plötzlich auch kein Problem mehr mit anderen Kindern in der Schule. Als sich in der Schule herumsprach, dass ich zum Thaiboxen ging, glaubten es meine Mitschüler erst nicht so recht. Sie trauten mir das wohl nicht zu. Andere Kinder bekamen da schon Respekt vor mir, weil sie gehört hatten, dass ich mit richtigen Männern trainierte, in einer der härtesten Sportarten, die sie sich vorstellen konnten. Dieser Ruf allein war schon viel wert.
Nur ein einziges Mal musste ich mich gegen einen Mitschüler wehren – Michael. Das war einer der nervigsten Jungs von allen. Immer wieder zog er mich an den Haaren, ärgerte mich, wollte mir meine Sachen wegnehmen. Eines Tages, als er wieder anfing, mich zu hänseln, ging ich zu ihm hin und verpasste ihm einen Kick auf den Oberschenkel, wie ich es im Training gelernt hatte. Da heulte er vor der ganzen Klasse los. Seit diesem Tag hat mich in der Schule nie wieder ein Kind geärgert oder gehänselt. Endlich wurde ich respektiert. Dieser eine Kick war mein Befreiungsschlag. Ich fand nun Freundinnen und war sogar einigermaßen beliebt. Und ein Jahr nachdem ich mit dem Boxen begonnen hatte, wurde ich sogar Klassensprecherin.
Und meine ganze Art, mein Wesen veränderte sich in diesem Jahr sehr. Hatte ich früher immer zu allem »Ja« oder auch nur »Hm« gesagt, auch dann, wenn ich mit etwas nicht einverstanden gewesen war, sagte ich nun ganz klar »Nein«. Ich lernte jetzt meine Grenzen ganz neu kennen – auch dass diese Grenzen viel weiter gesteckt waren, als ich immer angenommen hatte.
Nach der Grundschule ging ich auf die Realschule. Die Rola in der fünften Klasse war eine vollkommen andere als die Rola in der ersten Klasse. Ich trat vom ersten Moment an selbstsicher auf und integrierte mich sofort in die Gruppe. An der neuen Schule wusste aber auch schon jeder, dass ich einen Kampfsport trainierte. In diesen Jahren bin ich unheimlich gerne zur Schule gegangen. Wirklich Kind sein durfte ich aber auch dann nicht, denn mein Vater gestand mir keine Fehler zu. Es fiel mir damals jedoch nicht auf, dass meine Kindheit im Grunde gar nicht stattfand: kein Spielplatz, kein Baggersee. Heute finde ich es schade, dass mir diese Dinge, dieses Kindsein vorenthalten wurde. Damals wusste ich aber nicht, was da an mir vorbeiging, denn ich war glücklich in meinem Leben, so wie es war.
Dann kam die Pubertät, und wie das eben so ist, hatte ich plötzlich doch keine Lust mehr, ins Training zu gehen. Zu der Zeit ging ich schon vier Mal pro Woche ins Gym und arbeitete unheimlich hart an mir. Ich wusste, was ich konnte und was ich noch würde leisten können. Ich trainierte mit erwachsenen Sparringspartnern. Aber auf einmal kam mir alles sinnlos vor. Da war niemand, an dem ich mich hätte messen können, also keine Gleichaltrigen und erst recht keine Mädchen oder jungen Frauen. Alle erwachsenen Sparringspartner lobten mich, und ich machte mich halb kaputt, aber trotzdem war ich nur noch genervt. Was sollte das denn, immer dieses »Oh, du bist für eine Frau und für dein Alter richtig gut. Respekt!«? Für mich waren das nur leere Worte, weil es mir nichts brachte und ich das Gefühl hatte, mich nicht weiterentwickeln zu können.
Ich wollte auch keinen anderen Sport machen, ich hatte einfach null Bock auf irgendeinen Sport. Sicher hätte ich damals alles hingeschmissen, wenn da nicht meine Eltern gewesen wären und mein Trainer Tommy. Er beschloss, einen echten Kampf für mich zu organisieren, um mich dazu zu motivieren weiterzutrainieren. Er war es auch, der meine Eltern davon überzeugte, dass dieser Kampf sinnvoll war. Doch es dauerte lange, bis Tommy eine Gegnerin für mich fand, denn es gab damals ja kaum Mädchen und Frauen, die boxten.
Ein gutes Jahr später hatte Tommy endlich jemanden gefunden: Dagmar Koch, zehn Jahre älter als ich. Bei der Schwäbischen Boxmeisterschaft würde sie außerhalb der Wertung gegen mich antreten. Ich war skeptisch. Sie war vier oder fünf Kilogramm leichter als ich und deutlich kleiner. Wir sollten einen ganz normalen Drei-Runden-Kampf bestreiten. Ich wusste gar nicht, worauf ich mich da einließ. Es würde wie im Sparring mit den Männern sein, dachte ich, wie immer eben: Die schenken mir nichts, ich schenke ihnen ja auch nichts, drei Runden Rambazamba. Dann sah ich da eine kleine blonde Frau
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