Stehaufmädchen: Wie ich mich nach dem Attentat meines Stiefvaters zur Boxweltmeisterschaft zurückkämpfe (German Edition)
einen festen Glauben, ich kann mit seiner Tat leben. Aber meine arme Mutter ist an ihm zerbrochen, mein Bruder und meine Schwester leiden. Es geht hier nicht nur um mich allein. Ich müsste nicht nur verzeihen, dass er mich angeschossen hat, sondern ich müsste auch all das vergeben, das er meiner Mutter und meinen Geschwistern angetan hat. Das kann ich nicht. Einem Menschen könnte ich irgendwann verzeihen, doch es fehlt mir noch der Blick dafür, in dem Mann, der einst mein Vater war, wieder einen Menschen zu sehen. Wenn ich von ihm spreche, nenne ich ihn noch meinen Vater oder auch Papa, aber das sind nur Worte, die bei ihm keine Bedeutung mehr haben. Das ist kein Mensch, der so eine Tat begeht. Dieser Mann zeigt auch kein bisschen Reue. Er hat sich kein einziges Mal ernsthaft bei mir entschuldigt. Diese Lüge vor Gericht erkenne ich nicht an. Nicht einen Brief hat er geschrieben. Zu meiner Mutter sagte er neulich am Telefon: »Ach, was passiert ist, ist passiert.« Er tut so, als könnte man darüber hinwegsehen, was er gemacht hat. Mich fröstelt, wenn ich überlege, was das für ein Unmensch sein muss, der so etwas sagt und denkt. Diesem Unmenschen kann ich seine Unmenschlichkeit nicht vergeben. Ob ich dem Mann, der einmal mein Vater war, je verzeihen kann, weiß Gott allein. Ich hoffe es, für meinen Seelenfrieden.
Meine Vision von der Zukunft
Meine Zukunft wird großartig, das weiß ich jetzt schon. Ich werde in Zukunft das normale Leben führen, von dem ich immer geträumt habe. Auch das habe ich aus dem Attentat meines Vaters gelernt: dass ich ein anderes, ein klareres und echteres Bild von meiner Zukunft brauche. Vor dem 1. April 2011 hatte ich hochfliegende Pläne und wundersame Visionen, sah mich als große Sportmanagerin und mächtige Boxpromoterin.
Jetzt sehe ich die Welt, mich selbst und meine Zukunft anders, weil ich einen ganz anderen Bezug zum Leben bekommen habe. Ich habe gelernt, was mir selbst wirklich wichtig ist. Freiheit ist wichtig, sie ist im Leben eines der wichtigsten Dinge überhaupt. Freiheit bekommt man aber nicht geschenkt, man muss sie sich erkämpfen, und wenn man sie hat, muss man sie auch verteidigen, jeder Einzelne von uns. Denn jede Freiheit ist in Gefahr, ob durch die eigene Familie, durch kulturelle Einflüsse oder durch Zwänge des Alltags. Freiheit ist ein Privileg, das man wertschätzen muss.
Auch Normalität ist etwas, das nicht jeder automatisch erfährt. Ich hatte immer nur Extreme, und die will ich in Zukunft auch nicht mehr. Ich will jetzt ein stinknormales Leben haben, mit Kosta als Mann, uns beiden in einem Haus und mit einer großen Kinderschar. Wir wünschen uns viele gemeinsame Kinder, eine schöne, große Familie. Familie ist unheimlich wichtig. Meine Vorstellung für meine eigene Familie ist, dass jedem darin Platz gegeben wird, sich zu entfalten und er selbst zu sein. Jeder muss seine eigene Persönlichkeit entwickeln dürfen und er selbst werden. Die Familie ist der Ort, um gemeinsam zu wachsen, aneinander und miteinander, und gemeinsam stark zu sein. Den Satz »Bei uns ist das so!« wird es in meiner Familie nicht geben. Ich werde liebend gerne die Verantwortung für meine Familie mit übernehmen, aber mir der Größe dieser Verantwortung auch voll bewusst sein. Und ich werde meinen Kindern Verantwortung übertragen, mit der sie ebenfalls umzugehen lernen müssen, aber ich will sie damit auch nicht überfordern. Ich möchte sie zu selbstständigen, selbstbewussten Menschen erziehen, ihnen Werte mitgeben, aber sie zu nichts zwingen, was sie nicht möchten. Angst, Gewalt und Druck wird es bei uns nicht geben.
Vielleicht gehen wir alle zusammen auch einmal für ein paar Jahre nach Griechenland, helfen Kostas Eltern im Hotel oder bauen uns selbst in der Tourismusbranche etwas auf. Warum nicht eines Tages auswandern?
Eine Zeit lang werde ich noch boxen, aber es werden sicher nicht mehr viele Kämpfe sein. Drei, vier vielleicht, einer davon am liebsten auf dem Platz vor dem Ulmer Münster. Diesen Traum habe ich mir aus der Zeit vor dem Attentat herübergerettet: ein Boxring mitten in der guten Stube von Ulm, zu Füßen des größten Kirchturms der Welt. 10.000 Zuschauer, die zu diesem Sportfestival kommen und sich die Kämpfe ansehen. Dann gibt es kein Frauen- oder Männerboxen mehr, dann gibt es nur noch den Sport, Boxen, den Frauen ebenso wie Männer betreiben können, der ehrlich ist, direkt und für Zuschauer jedes Alters spannend. Die Aufmerksamkeit, die
Weitere Kostenlose Bücher