Stehaufmädchen: Wie ich mich nach dem Attentat meines Stiefvaters zur Boxweltmeisterschaft zurückkämpfe (German Edition)
zerbrechen, und damit habe ich uns alle gerettet. Obwohl wegstecken eigentlich das falsche Wort ist. Es sagt sich so schnell dahin. Was mir passiert ist, kann man nicht einfach wegstecken. Ich habe gelernt und lerne immer noch, damit umzugehen, diese Formulierung trifft es besser. Dadurch, dass ich den gesamten Zorn meines Vater auf mich nahm, befreite ich nicht nur mich, sondern meine ganze Familie. Ich bin diejenige, die es am härtesten getroffen hat, daher kann ich mich jetzt auch am leichtesten aus seinem Griff lösen, seinen Schatten abschütteln. Wäre das nicht passiert, hätte ich noch heute Angst vor meinem Vater und würde tun, was er mir befiehlt. Ich bin jetzt frei, und ich wünsche mir sehr, dass auch meine Mutter dieses Gefühl der Freiheit und Selbstbestimmtheit kennenlernt und dieses Gefühl zulässt. Was ich durchmachen musste, hat dazu geführt, dass ich Herrin meines eigenen Lebens wurde. Jetzt sind Kosta und ich verlobt, wir haben uns ein schönes Haus am Stadtrand von Ulm mit einem großen Garten gemietet, und ich bin wieder Boxerin. Mein Leben hat begonnen. Das war es wert.
Wirbeln
Ich bin Rola, die wirbelt. Gläser abräumen, Gläser in die Spülmaschine stellen, Cocktailrezepte nachschlagen, Cocktails mixen. Das »BaRola« läuft super. Am Wochenende feiern die Gäste bei uns bis zwei Uhr morgens. Eigentlich sollte ich nicht da sein, weil ich mich ganz auf meinen Sport konzentrieren will, aber andererseits bin ich eben schon da. Wenn jemand vom Personal kurzfristig ausfällt, bin ich da, sperre pünktlich um 17 Uhr den Laden auf, mache Kaffee für die ersten Gäste. Bohnen frisch mahlen, Kaffeepulver feststopfen, Siebträger unter die Maschine klemmen, Kaffee in Tassen laufen lassen, Tassen aufs Tablett stellen, servieren. Im Kühlschrank nachsehen, welche Sandwiches noch da sind. Käse? Türkische Sucuk-Wurst? Käse-Sucuk?
Viele hier sind Stammgäste. Bekannte, Freunde und Verwandte von mir, von Kosta. Aber viele auch nicht. Gerade Freitag- und Samstagnacht nach zehn, wenn in Ulm richtig was los ist, kommen alle möglichen Leute zu uns. Machen es sich hinten auf dem braunen Sofa gemütlich und rauchen Shisha. Sitzen vorne an den weißen, hohen Tischen, trinken Whisky-Cola oder den Mai-Tai, den ich mache, naschen klein geschnittenes Obst dazu. Ich gehe dann von Tisch zu Tisch, frage: »Und, passt bei euch alles?«, dann heißt es weiterwirbeln. Eiswürfel in die Tumbler, Gin abmessen, Tonic aus dem Kühlschrank holen. Ich trinke selbst keinen Alkohol, aber die Gäste dürfen gerne feiern. Ich strahle. Ich gebe Kosta im Vorbeigehen ein Küsschen.
An den Wänden gegenüber dem Tresen und über dem braunen Sofa hängen Schwarz-Weiß-Bilder von mir. Sie zeigen Rola, die boxt. Unter dem Brandenburger Tor. Vor einem Kampf in der Kabine, während mir mein Team die Zöpfchenfrisur flicht, wobei ich eine lustige Grimasse schneide. Kurz nach meinem ersten WM-Kampf, als ich mir mit gequältem Gesicht in die Faust beiße und warte, dass die Siegerin verkündet wird. Und eine Großaufnahme meiner Augen. Klar, dass es das »BaRola« nur mit Rola gibt. Aber Rola, die boxt, steht hier im Hintergrund. Hier bin ich Rola, die wirbelt und alle mit ihrer Kraft, mit ihrem Lächeln umhaut.
Der zweite Selfmade-Boxstall
Auch als Boxerin beginnt jetzt mein neues Leben. Dass ich wieder boxen wollte, war mir schon im Krankenhaus klar, aber ob und wann ich es wieder könnte, war lange unsicher. Im Frühjahr 2012 war ich zuversichtlich, dass ich wieder im Ring stehen könnte, denn meine Verletzungen waren gut verheilt. Ich begann daher, meinen Comeback-Kampf zu planen. Die Metallplatte wurde aus meiner Schlaghand entfernt, sodass ich wieder boxen konnte. Mein Körper mag gezeichnet sein mit zwölf Narben von Schüssen und Operationen, meine Seele mag wund sein, aber mein Kampfgeist ist ungebrochen. Er ist es immer gewesen. Ich will meinen Weltmeistergürtel verteidigen und damit allen zeigen, dass mein Vater nicht gewonnen hat. Im Herbst 2012 begann ich, mich mit gezieltem Training auf den Fight vorzubereiten.
Am 5. November 2012 verkündete ich in einer Pressekonferenz meinen Comeback-Kampf: Am 12. Januar würde ich in der Ratiopharm-Arena um meinen Weltmeistertitel des Verbandes WIBA boxen, gegen Lucia Morelli. Während meiner Auszeit hat niemand um diesen Titel geboxt. Lucia ist amtierende Weltmeisterin des Verbandes WCF und war schon einmal meine Sparringspartnerin. Sie lebt in Offenburg, aber wir kennen uns
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